Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

Der saure Zug

Wenn wir in eine Zitrone beißen, verziehen wir den Mund und deuten damit schon an, daß uns etwas nicht recht ist; dennoch zwinkern wir mehr oder weniger lachend und beiRen weiter zu, ein Beweis, daß doch auch ein Vergnügen dabei sein muß; da haben wir die zwiespältige Einstellung, eine Angriff-Abwehrstellung zugleich, also eine richtige Kontaktstellung nicht nur dem Reizkontakt nach wie beim süRen Geschmack, sondern auch dem Willenskontakt nach; ich leiste geflissentlich Arbeit bei der Bewältigung des sauren Gegenstandes; daraus ergibt sich die symbolische Ausdrucksbedeutung. In den Geschmackseinstellungen sind also — wieder eine neue Kombination — Gefühlseinstellungen mit den drei Bezugswendungen innig gekoppelt; daher auch das Unikum einer gemischten Lust-Unlusteinstellung, die der Blick schon auf beide Augen verteilen müßte,

Beim süßen Zug drückt sich die Lust auch dadurch aus, daft die Mundwinkel leise nach oben gerichtet sind, wodurch ein leichtes Lächeln über den Lippen schwebt. Beim sauren Zug sind sie im allgemeinen seitlich gerichtet, oder auch der eine schwach aufwärts, der andre schwach abwärts; in beidem spricht sich die Gefühlszwiespältigkeit (die Ambivalenz) oder die Gefühlsmischung aus. Diese bringt es auch mit sich, daß die Lippen zwar in der Mitte aufeinandergepreßt sind, um den sauren Gegenstand festzuhalten, an den Seiten jedoch durch Hinaufziehung der Oberlippe etwas geöffnet, gleichsam als wollte doch die Mundflüssigkeit seitlich abfließen; und dies hängt wieder damit zusammen, daß die Geschmackspapillen für das Saure beiderseits an den Zungenrändern gelegen sind.

In der Preßstellung des sauer verzogenen Mundes trifft eine vertikale Einwärtsspannung in der Lippenmitte mit einer schrägen Auswärtsspannung an den Lippenseiten zu-

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