Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

wenn es sich um Bilder handelt, nicht nur Porträttreue, sondern auch Kontrolle unbedingt nötig. Denn es verhält sich hier wie mit allen Voraussetzungen exakter Wissenschaft: wir sind nie völlig sicher, ob sie wirklich richtig sind, wir müssen sie ebenso sehr ständig an der Wirklichkeit überprüfen wie der Astronom die Entfernung des Mondes von der Erde. In dieser ständigen Kontrolle liegt ja zugleich das Geheimnis der Fruchtbarkeit an neuen Resultaten. Man darf sicher rechnen, daß mit zwanzig neuen durchgeführten Analysen die Ausdrucksphysiognomik um einen neuen Satz bereichert wird.

Was heißt nun Porträttreue? Wir hörten schon, daß nicht jede Photographie porträtgetreu ist, vor allem nicht eine retuschierte, in der oft wichtige physiognomische Merkmale, besonders Falten, einfach wegeskamotiert sind, so daß die Charakterbeschreibung unvollständig bleiben muß, wenn nicht gar verfälscht, zumindest aber so ‚„idealisiert“ wie das Bild selbst. Die betreffenden Personen sind dann überrascht, daß die Charakterbeschreibung „zu gut“ ausgefallen ist. Wie es anderseits mit der Erfassung des fruchtbaren Ausdrucksmoments zusammenhängt, daß ein Gemälde oft viel porträtechter sein kann als ein Photo, wurde schon ausführlich besprochen. Wir haben uns kritisch mit dem Wert unsrer Resultate beschäftigt. Nun tut ein gleiches in bezug auf unsre Methode not. Wir dürfen keinen Augenblick vergessen, daß sie eine Indizienmethode ist, die die Resonanzmethode zwar bei keinem ihrer Schritte als Kontrolle entbehren möchte, die sich aber doch über jeden ihrer Sprüche vernünftige Rechenschaft zu geben hat. Nur zu oft fühlt sich der einigermaßen Geschulte vor einer Person oder einem Porträt versucht, seine Kunst zu erproben und rasch ein Urteil abzugeben, oft auch wird, weil man ja gar zu gern jede Deutungskunst als ein Gesellschaftsspiel ansieht, an den Physio-

302