Giorgiones Geheimnis : ein kunstgeschichtlicher Beitrag zur Mystik der Renaissance

aussetzung. Noch einmal: Wer das Kostüm, die Altersstufen, Beshäftigung und Aufstellung, die Attribute in den Händen der Gestalten des Bildes, dazu die landschaftliche Situation unbefangen auf sich wirken läßt, der muß gerade in diesem Falle den Eindruck haben, als trete hier Giorgione aus der Zurückhaltung und der idyllischen Allgemeinheit mancher anderer Bilder mehr als gewöhnlich heraus. Suchen wir seine Winke zu verstehen, ohne schon ein festes Erklärungsschema heranzutragen! Freilich genau so, wie bei einem Heiligenbilde alle Heiligenattribute dem nichts sagen, der die Ikonosraphie der Heiligen nicht kennt, so können auch die Zeichen, die uns Giorgione auf diesem Bilde gibt, nur dem etwas geben, der über eine gewisse Zeichensprace unterrichtet ist. Dazu gehört auch, daß man sich von der dogmatischen Voraussetzung frei macht, es müsse, wenn in einem Profanbild der Renaissance nicht der Besteller selbst historisch oder allegorisch gefeiert wird, der Inhalt regelmäßig der Antike entnommen sein, sei es im Anschluß an alte und neue Autoren, sei es in freier Erfindung auf Grund antiker Vorstellungen. Dies mag die Regel sein. Bei Giorgione aber handelt es sich, wie wir nachweisen wollen, gelegentlih um das Eindringen eines ganz anderen Kreises von Sinnbildern und Handlungen, eines Stoffkreises, von dem freilich die offizielle Kunstforschung bis heute nicht viel weiß.

Unser Bild zerfällt in zwei fast gleichgroße Hälften, eine belebte, reich gegliederte und eine leere, unbewegte. Die linke unbelebte Hälfte stellt einen aufsteigenden bewachsenen Felsen dar, wir gewahren seine „Innenseite”, deren oberer noch schwach beleuchteter Teil nach vorn überhängt, während sich der Blick mehr nach unten zu in tiefe Schatten verliert, die so etwas wie eine Höhle („grotta” sagt auch L. Venturi) im Innern des Felsens vermuten lassen. Von dieser düsteren Kulisse wird durch den hellen Ausblick auf die weite Landschaft und einen hohen Abendhimmel darüber die rechte Bildfläche geschieden, wo sich die Formen vielgestaltig in den Vordergrund drängen. Wir erbliken einen Hain, der durch wenige zum Teil unbelaubte Bäume mit etwas niedrigem Gebüsch charakterisiert ist. Drei Männer befinden sich hier wie auf einer Bühne unmittelbar vor uns. Der kahle unbewacsene Boden zu ihren Füssen senkt sich in drei Stufen

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