Giorgiones Geheimnis : ein kunstgeschichtlicher Beitrag zur Mystik der Renaissance

nach der Seite der Felshöhle herab. Auf der kleinsten und obersten Stufe nach der Mitte des Bildes zu sitzt ganz für sich der Jüngste, streng im Profil gesehen. In der linken Hand faßt er ein großes Winkelmaß, wie es Geometer und Handwerker gebrauchen, die rechte Hand umfaßt einen nach unten geöffneten Zirkel; sie stützt sich wohl auf einen Gegenstand, der hinter der das Winkelmaß haltenden Linken verborgen bleibt. Das bartlose Antlitz des lodkenhaarigen Jünglings hebt sich scharfvon dem kahlen Baumhintergrund ab, es ist nach links gewandt, und der Blick schaut mit einer unverkennbar prüfenden Aufmerksamkeit in die unbelebte Bildgegend hinüber, eine sehr starke seelische Verbindung mit der düsteren Felsenhöhle herstellend. Auf der zweiten Stufe weiter nach rechts und nach vorn befindet sich stehend in einer langsamen, fast statuenhaften Schrittstellung ein Mann in Vorderansicht. Er trägt orientalische Tracht mit Turban, auf der Brust ein sorgfältig gekennzeichnetes Shmuckstüc. Die rechte Hand ist mit dem Daumen leicht über den Leib in den gewickelten Gurt eingehängt und im übrigen vom Daumen etwas abgespreizt und gebogen; unter ihr ist etwas sichtbar, was vielleicht als eine Art herabhängender Sclleife, ebenso gut aber auch als ein Beutel gedeutet werden kann. Neben ihm, ganzrechts unmittelbar im Vordergrunde steht ein bärtiger Greis etwa in der Tracht des römischen Priesters. Es scheint, als wandele er, dreiviertel nach links gewandt, in Schrittstellung die dritte untere Stufe des Geländes herab, die sich wie ein Weg in die Höhlengegend links hinüberzieht. Zwischen der linken und rechten Hand hält er ein großes Blatt, das mit geheimnisvollen Zeichen und Zahlen bedeckt ist. Er scheint es soeben unter dem Gewande hervorzuziehen, es gleichsam zu enthüllen. Seine linke Hand am unteren Blattrande hält überdies noch einen Zirkel. Alle drei Männer haben geschlossene Lippen, aber ihr Schweigen wirkt bei jedem anders: der jüngste ist in suchendem Forschen verloren, der mittlere schweigt als ein Handelnder, der den Weg kennt, des Greises Schweigen aber ist wie die Wolke, aus der der erleuchtende, offenbarende Blitz brechen wird.

Am auffallendsten in dieser seltsamen Anordnung und Beschaffenheit ist wohl die offenbar sinnbildlih betonte Dreigliederung der Altersstufen

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