Giorgiones Geheimnis : ein kunstgeschichtlicher Beitrag zur Mystik der Renaissance

I.

Jedes Zeitalter sucht in der Vergangenheit nur das mit besonderer Klarheit, wofür es selbst lebendige Vergleiche erlebt. Begreiflich, daß man heute für das kultische Sozietätswesen früherer Zeiten noch am meisten dort ein empfängliches Organ besitzt, wo derartiges — wenn schon nur in Ausläufern weiterwirkt. So verdanken wir, da das populär-okkultistische Schrifttum unserer Tage fast ganz amerikanisiert ist und in oft schwindelhafter Weise Spreu und Weizen durcheinander mischt, eigentlich nur den wissenschaftlichen Forschungen weniger freimaurerisch gerichteter Historiker das Wenige, was wir wissen.

„Die Geschichte der italienischen Akademien,” sagt Ludwig Geiger in einer Anmerkung zu Burc&hardts Kultur der Renaissance, „ist noch zu schreiben. Merkwürdige Andeutungen gab Ludwig Keller in den Monatsheften der Comeniusgesellshaft.” Die vielen Aufsätze und Notizen, die der bekannte Historiker Archivrat Keller an der genannten Stelle veröffentlicht hat, sind in einer Zeit verfaßt worden, da eine mehr philologisch gerichtete Tatsachenforschung einer universelleren, vielleicht auch intuitiven Betrachtung der Zusammenhänge wenig günstig war. Die „merkwürdigen Andeutungen” Kellers, getragen von einem bewunderungswürdigen Instinkt für historische Kontinuität, für das Gesetz der „Erhaltung der Kraft” und der Unzerstörbarkeit „geprägter Form” auch in der Geistesgescichte, beflügelt von dem Spürsinn einer gewissen Kongenialität, zahllose mühselig zusammengetragene Einzeltatsachen in ahnungsvoller Gesamtschau in Zusammenhang bringend, wurden zu ihrer Zeit sogar in Keller nahestehenden Kreisen oft verkannt. Vielleicht ist erst heute die Stunde zur vollen Würdigung und Nützung der leider nur allzu verstreuten Untersuchungen gekommen.

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Kellers Forschungen zur „Vorgeschichte der Freimaurerei,”') wenn man so sagen darf, erstrecken sich auf das gesamte geheime Gesellschafts- und Sektenwesen in der abendländischen Geistesgeschichte. Soaufdie Akademien der Platoniker im Altertum, die frühchristlichen Kultvereine, die gnostischen Sekten mit ihrer Symbolik, die mittelalterlihen Bauhütten und ihre Zeihen

und Sinnbilder, die W aldenser und böhmischen Brüder, die Kultgesellschaften

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