Giorgiones Geheimnis : ein kunstgeschichtlicher Beitrag zur Mystik der Renaissance

IV.

Von welchen Bildern hat freilich der Giorgione-Forscer auszugehen, welche können mit einiger Sicherheit, sei es als Originale oder alte Kopien verlorener Bilder, sei es als Schulwerke nach Skizzen des Meisters für die Beurteilung Giorgiones herangezogen werden? Ein Blick auf die stilkritischen Ergebnisse Gronaus, Widkhoffs, Schmids, Schaeffers, Justis, Cooks, L. Venturis u. v. a. zeigt, daß über diese Frage eine geradezu heillos erscheinende Uneinigkeit herrscht. Die einen wollen, daß von dem ganzen Oeuyre eines immerhin 32jährigen Künstlerlebens heute nur noch sechs bis acht Bilder erhalten sind, und auch über diese ist man sich nur hinsichtlich der direkt beglaubigten Bilder einig. Die andern bringen es auf eine stattliche Liste von 30 bis 40 Gemälden. Behauptung steht hier überall gegen Behauptung. Nicht nur in Stil-, sondern sogar in reinen Qualitätsfragen herrscht eine geradezu verblüffende Meinungsversciedenheit. Völlig unbestritten als eigenhändige Originale sind überhaupt nur außer den „Drei Philosophen” die berühmte Madonna von Castelfranco („das einzige völlig sichere religiöse Bild von G.”), die sogenannte „Familie Giorgiones” und die schlafende Venus; beinahe unbestritten der kleine kreuztragende Christus in S. Rocco,

die Judith in Petersburg und das Bildnis in Berlin ; mindestens als direkte Kopien anerkannt sind heute das Fragment des Selbstporträts als David (in Braunschweig, eine glänzende Rekonstruktion Justis), die Jünglingsbüste mit Pfeil in Wien, das Fragment der beiden Hirten in Budapest, außerdem die Freskoreste am Fondaco dei Tedeschi. Das sind zumeist quellenmäßig beglaubigte Werke, sie sind zumTeil mit gewissen bei Vasari und Michiel unzweideutig beschriebenen Bildern zu identifizieren oder in Beziehung zu bringen. Sobald es von hier aus, ohneliterarische Unterlagen, an eigentlichsstilkritische Bestimmung geht, hört die Übereinstimmung der Kenner bald völlig auf. Da mithin die übliche von rein formalen Kriterien ausgehende Bestimmungsmethode im Falle Giorgiones offenkundig versagt, ist es vielleicht erlaubt, dem Problem einmal versuchsweise von einer ganz anderen, „psychologischen” Seite her näherzukommen. Ergebnisloser als die „exakte” Stilverglei-

chungsmethodekann dies unsichere Verfahren in diesemFalle gewiß nicht sein.

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