Giorgiones Geheimnis : ein kunstgeschichtlicher Beitrag zur Mystik der Renaissance

Vordergrund sieht man einen Totenkopf mit zwei gekreuzten Knochen, denen sich ein größeres drachenartiges Ungeheuer mit skelettartigem Schädel nähert. Die Gesamtdeutung dieser Komposition ist schwierig, daß aber eine willkürliche Phantasieleistung vorliegt, ist aus verschiedenen Gründen besonders unwahrscheinlich. Wir wissen zuviel von der universalen gelehrten Bildung Campasnolas, der als Wunderknabe am Hofe von Ferrara berühmt war und hier als Page bei Herzog Ercole ohne Zweifel auch mit der beliebten geheimwissenschaftlihen Materie vertraut wurde. Bembo widmete ihm ein Epigramm und der Astrolog Pomponius Gauricus besang seinen Vater Girolamo. Mit Giorgiones Person und seiner Kunst muß er nicht nur aus diesen Gründen in innigster Verbindung gestanden haben. Eine ganze Reihe seiner Stihe — wohl auch jene prachtvolle Gestalt eines Sinnenden (Melancholikers) mit dem Totenschädel, die wir noch erwähnen — verwendet Giorgiones Motive, auch unsern Stich hält Kristeller mit Recht für die stecherische Ausarbeitung einer Zeichnung des Meisters. Das Werk ist jedenfalls nicht nur der Form, sondern auch der Gedanklichkeit nach giorgionesk und darum zur Charakteristik unseres Malers mit Recht verwendbar. Warum das Symbol des Todes bei dem „Astrologen”? Gewiß ist diesmal kein Astrolog im engeren Sinne, sondern ein Magier gemeint und die Totenknochen bedeuten vielleiht ein Zeichen der Beschwörung. Man muß aber auch wissen, daß uns aus späterer Zeit der Totenkopf mit den gekreuzten Knochen als Lehrbild bekannt, und daß der Schädel (caput mortuum) außerdem ein Symbol bestimmter Abschnitte des alchemistischen Verwandlungsprozesses ist. Zirkel und Scheibe in der Hand des Philosophen kann auch so nicht als unmittelbares Gebrauchswerkzeug aufgefaßt werden. Ähnlich wie hier ist auf dem großen Bilde der „Melancolie” von Matthias Gerung, das wir abbilden, der melancholische Philosoph dargestellt. Sollte also auch hier die neue Komplexionenlehre zur Charakteristik des Magiers herangezogen sein? Das herankriehende Untier ist als Drache (alemistisches Geheimsymbol; vergl. unsere Abbildung „Rebis” $.7D) oder auch als „Basilisk” anzusprechen. Daß die spagirische Kunst (Alchemie)

Mensdlein (Homunculi) und Monstra erzeugt, wissen wir aus den son-

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