Giorgiones Geheimnis : ein kunstgeschichtlicher Beitrag zur Mystik der Renaissance

Künstlers wie Giorgione vermuten läßt, macht eine solche Veranlagung geradezu wahrscheinlich. °*)

"Handelt es sich nun bei dem Stich Marc Antons wirklich um jene Stelle bei Servius, dem Kommentator der Äneis, der uns erzählt, daß zwei Mädchen (Vestalinnen waren wohl gemeint), die im Tempel der Penaten zu Lavinium nächteten, vom Unwetter überrascht wurden, wobei die Eine, Unkeusche, vom Blitz erschlagen wurde, während der Andern, Keuschen, nichts geschah? Auf dem Stich Marc Antons nahen die (zur Not so zu deutenden) „unsauberen Gedanken”, nämlich allerlei an Hieronymus Bosch erinnerndes infernalisches Getier, wie aus einer Versuchung des heiligen Antonius, jedenfalls beiden schlafenden Mädchen; auch ist nichts davon zu sehen, daß eines vom Blitz erschlagen wird. Beide scheinen nur ruhig zu schlafen ; auch liegen sie nicht im Tempel, sondern am Ufer eines Flusses — Styx sagt das Verzeichnis von Bartsch —, drüben die Stadt zeigt unter anderm den Turm einer Sternwarte mit astronomischen Instrumenten! Wir können also auch diese Deutung Wichoffs nur gelehrt, aber nicht einleuchtend finden. Wir glauben vielmehr nur, daß es eben ein Traum des Giorgione war und nicht, wie bei Marc Anton nahe lag, des Raffael. Das Interesse der Menschen des I6Ö. Jahrhunderts an ihren Träumen und Divinationen war ja so stark. An den „Suenos” des Hier. Bosch ergötzte sich ein Philipp I. Man lese auch die kapitellange Beschreibung, die Benv.Cellini seinem großen Traum widmet (eine künstler-psychologisch äußerst bemerkenswerte Stelle) oder Dürers Traumgesicht, oder man vertiefe sich in die ausführlichen Selbstbeobahtungen des Cardanus über seine Halbschlafs- und Wachvisionen.

Freilih muß der „Iraum” für Giorgione einen Sinn, er muß ihm einen Anreiz zur Deutung und Auslegung dargeboten haben. Zweifellos ist vieles auf dem Kupferstich als besonderer Wink und Hinweis für den „Eingeweihten” zu verstehen. Wieder haben wir das Wasser, den Fluß als das große Trennende; symbolisches Lieblingsmotiv des Giorgione. Jenseits sieht man den Blitz aus dem Berge brechen, in den Gebäuden tobt das Feuer, Menschen suchen sich zu retten. Hier also der Untergang. Diesseits des Flusses eine hohe Mauer, auffallend die hohe Säule am Eingang, auffällig

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