Giorgiones Geheimnis : ein kunstgeschichtlicher Beitrag zur Mystik der Renaissance

Evander sein Jahrfest mit Opfern. Als sie das Schiff des Äneas landen sehen, eilt Pallas, Evanders Sohn, mit ergriffenem Schwerte zum Ufer, und da sich Äneas, den friedlihen Ölzweig in der Hand, mit den Seinen als flüchtiges Troergeschlecht ausweist, führt er den Ölzweigtragenden zum alten König, der sein Opfer nicht abgebrochen hat. Es folgt nun eine feierlihe Anspradhe des Äneas an Evander, in der er sein schutzflehendes Nahen mit langen genealogischen Ausführungen begründet. Der König sagt ihm Hilfe zu und sicheres Geleit und fordert ihn auf, am Opfer teilzunehmen. „Also spradhh er und heißt den Priester und Diener, daß das Festmahl und enthobene Becher wieder erneuert werden” (Voss). Nadı Wic&khofis Deutung soll nun Äneas der orientalish gekleidete Mann im Turban sein, der Greis im Priestergewand mit dem Zirkel und dem Pergament in der Hand soll den König Evander darstellen, der Jüngling mit Zirkel und Winkelmaß den Pallas. Weder trägt Änaes den Ölzweig, der bei Virgil immer wieder erwähnt ist und der das Wesentliche dieser Zusammenkunft andeutet, no sieht man irgend etwas vom Altar oder Opfer und Priesterschaft, noch ist der Pallas bewaffnet. Warum hat sich der angebliche Pallas mitseinen mathematischen Instrumenten, die wederkriegerischnoc opfergemäß sind, von den beiden Älteren abgetrennt, die ohne viel Beziehung jeder für sich nebeneinander stehen? Warum schaut er sitzend, während die Älteren abseits stehen, so eindringlich in der Richtung zum Felsenhügel? Alle solche Züge sind keineswegs vage und allgemein, sondern diese Attribute, Stellungen und Beschäftigungen weisen geradezu gebieterisch darauf hin, daß Bestimmtes gemeint und angedeutet ist. Nur daß alles dies, und gerade dies Besondere, Auffällige, niaat in der geringsten Beziehung zu dem steht, was uns Virgil von dem Tun der drei Männer im Opferhain berichtet, die überdies von Priestern umgeben sein sollen! Hat wirklich Giorgione die Stelle der Äneis nicht selber gelesen, so würde man ihm doch das Wesentlichste der Situation, Opfer des Evander, Lorbeerzweig des Äneas, Pallas, der den Hilfeflehenden bringt, Evander, der ihn begrüßt, verständlich gemacht haben und er wäre nicht gerade darauf verfallen, den Pallas abseits für sich auf den Boden zu setzen und mit Zirkel und Winkelmaß scheinbar „das Feld messen” zu lassen, dem Evander statt des Opfermessers einen Zirkel sowie ein Blatt mit geheimnisvollen Zeichen und Zahlen in die Hand zugeben.

12) Auch Ptolomäus wird oft als Morgenländer mit Turban gekennzeichnet. Vergl.Titelblatt z. Sacrobosco, Sphaera mundi, Venedig 1488.

13) Über „Mehrdeutigkeit der Symbole” siehe vor allem die grundlegende Arbeit von Herbert Silberer „Probleme der Mystik und ihre Symbolik”, Wien. Vergl. auh Th. W. Danzel „Prinzipien und Methoden d. Entwicklungspsyaologie”, Berlin, Wien 1921.

15) Zahlreiche Beispiele bei Prince d’Essling, Livres a figures venitiennes. Vergl. insbesondere Titelholzschnitt zu Sacrobosco, Sphaera mundi, Venedig 1488, Eschuich „Summa astrologiae”, Venedig 1489, Cehho d’Ascoli, Acerba, Venedig 1524, Albertus Magnus, Philo-

75