Sadismus, Masochismus in Kultur und Erziehung

Sadismus, Masochismus in Kultur u. Erziehung. ray

wissen, wie sehr früh beim Kinde das Gefühls- und Affektleben erwacht, und schon beim ersten Erwachen desselben, welches sich im Schreien ausdrückt, sehen wir ihm das greuliche Gespenst „Furcht“ entgegengestellt. Erschreckende Fratzen, Anschreien, Angstmachen und Einschüchtern durch den schwarzen Mann, den Wolf und böse Tiere, — das sind die ersten schweren Vergehen am Gemütsleben und somit auch am Geistesleben des Kindes.

Hier ist’s, wo, gleichzeitig mit der Furcht, Adlers Minderwertigkeitsgefühl, dieser Hauptfaktor des neurotischen Charakters geboren wird!).

Nimmt das Kind an Alter zu, dann droht ihm eine neue ähnliche Gefahr durch dieMärchen. „Es ist in der Tat auffallend wie in unserer aufgeklärten Zeit alte anstößige Märchen nicht nur nicht ausgemerzt sind aus Kinderbüchern, sondern wie auch jetzt noch viele dem kindlichen Gemüt unzuträgliche Märchen entstehen, die wir von unserem Standpunkte durchaus ablehnen müssen ..... Welchen Nutzen soll es z. B. für Kinder haben, wenn in den Märchen viel von Mord und Totschlag die Rede ist und wenn mit einem Menschenleben in der leichtsinnigsten Weise umgegangen wird, als gelte es gar nichts, oder wenn böse Taten ohne schlimme Folgen für ihre Urheber bleiben? In einem Märchen von Dr. Oskar Dahnhardt (Deutsches Märchenbuch ı. Auflage 1902 bei Teubner) ist von einem Diebstahl die Rede, der straflos ausgeht: ein Junge stiehlt Zaubermittel, mit denen er später sein Glück macht (Märchen 2; man vergleiche aus derselben Sammlung noch Nr. 4, 5, 8 u. a.). Um zu zeigen, welch schädlicher Einfluß durch Märchen oder auch nur durch ungeschickte Interpretation von Märchen gelegentlich entstehen kann, greife ich aus dem von mir gesammelten Material nur eins heraus. Ich wurde in einem Falle zu Rate gezogen, in welchem ein aufgeweckter Knabe von vier Jahren, den der Mutterliebe zarte Sorgen bis dahin vor unnötigen und schädlichen Affekten glücklich bewahrt hatten, eines Abends beim Zubettegehen in elementarer Weise und zum nachweislich ersten Mal Angst litt, nachdem ihm an jenem Tage zum ersten

!) Siehe Alfred Adler ‚‚Ueber den nervösen Charakter‘“.