Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 12.

Novelle von G. Höcker. 175

4.

Als die längeren Tage herangekommen waren 1nd draußen ſtürmiſche Winde den Frühling verkündeten, da rang in dem Hauſe Meiſter Müllex?s ein junges Leben mit dem Tode.

Im Hauſe ſelbſt {hien der Tod ſchon ſeinen Einzug gehalten zu haben, ſo unheimlich ſtill war es in demſelben. Die Magd ging ſo behutſam dur die Gänge, wie ſie nux fonnte, und Meiſter Müller vollends ſ{li< nux auf den Zehenſpißen. Ju der freundlichen Balkonſtube aber mit der herrlichen Ausſicht auf den Garten lag Helene. Sie mochte dex zarten Frühlingsblume gleichen, welche der Märzenſchnee erſtarrt hat, und ihr Antliß und ihre Hände waren ſo troſtlos weiß, wie dieſer. Jn ihren großen blauen Augen glühte ein unheimliches Feuer, welches das Leben8mark des jungen Weibes zu verzehren drohte. Selten, daß ſie bei klarem Bewußtſein war, in der Regel huſchten wizre Träume durch ihren Sinn, und ihren bleichen Lippen entrangen ſich Ausrufe des Schre>ens und Entfeßens.

Der Hauzsarzt ſchüttelte zu alledem den Kopf. Ex hatte Helene von Kinde8beinen an gekannt und wußte, daß ſie eine gar zarte und ſorglich zu behütende Menſchenblume war. Jebt hatte ſie der rauhe Sturm des Lebens erfaßt und zerzaust, und der erfahrene Kenner der menſchlichen Leiden wollte an feine Hoffnung mehr glauben. Ueber= reizung der Nerven und Fieber, ſo lautete ſeine Diagnoſe, und ſo verhielt es ſi< in der That.

Krank und gebrochen an Körper und Geiſt hatte Meiſter Müller ſeinen Sonnenſtrahl aus dem fremden Land in die