Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 12.

178 Das Herzblättchen.

„Weißt Du noh — vom Sonneuſtrahl — Du ex= zählteſt es mix früher oft.“

Die Augen des alten Mannes wurden feucht, denn vor ſeinem geiſtigen Bli>e tauchte mit Macht ein längſt dahin geſ<wundenes Bild auf. Es war in der alten Tiſchler= werkſtatt geweſen und Helenchen hatte auf einem mächtigen Hauſen von Hobelſpänen geſeſſen. Mit den gewundenen Spänen hatte das Mädchen ihr Haupt verziert und die Sonne halte gerade auf ihre goldenen Lökchen geſchienen. Da hatte die Kleine auch ein Märchen erzählt haben wollen, und Meiſter Müller hatte ihrem Wunſche willfahrt, weil es ihm wunderſam im Herzen zu Muthe wax und ein wirkliches Märchen in demſelben aufgedämmert war. So hatte ex thx das Märchen vom Sonnenſtrahl erzählt, und ſeitdem hatte es Helenchen oft wieder erzählt haben wollen. In der Negel hatte ſie dann auf ſeinem Schoße geruht, und wenn Meiſter Müller zu Ende gekommen war mit ſeinem Märchen, dann war der goldene Lockenkopf zur Seite geſunken und die großen blauen Gu>&augen hatten ſich zu friedlihem Schlummer geſchloſſen.

Daran hatte Meiſter Müller denken müſſen, und als er nun iwwieder das Haupt ſeines Kindes gegen die Bruſt gedrüd>t hielt, aber unter ſo ganz anderen Verhältniſſen, da drüdte die Wehmuth ihm ſchier übermächtig auf das Herz.

„Weißt Du — das Märchen —“ hauchte Helene wie= der nach einer Weile.

„Willſt Du es noch einmal hören, Kind? Aber es wird Dich erregen, und Du brauchſt Ruhe.“

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