Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 12.

Novelle von G. Höer. 181

beugte er ſi< zu ihr nieder und preßte raſh das Ohr gegen ihre Bruſt. Endlich ſagte er verwundert, kopfſchüt= telnd: „Ja, Jhre Tochter ſchläft. Sie liegt in einem eigen= thümlichen, magnetiſchen Schlummer, wie er in großen Kriſen zuweilen freiwillig eintritt. Die Heilkraft der Natur bereitet ſi< zum entſcheidenden Kampfe mit dem Dämon der Krankheit vor.“

„Sie ſchläft,“ ſtammelte Meiſter Müller mit gefalteten Händen, „ſie ſ{hläft alſo nur?“

Dex Arzt ni>te ernſt mit dem Kopfe,

„Ja, ſie {<läft — zum Leben oder — zum Tode.“

9.

Dex Juni war ins Land gekommen. Der Himmel ivar blau und flar, und dur< die balſamiſchen Lüfte

tummelte ſi<h ein ungezähltes Heer leiht beſchwingter

Sänger. Auch in dem Häuschen Meiſter Müller's war ein neuer Glüdeëſchimmer eingekehrt.

Nach langem todeëzähnlichen Schlafe hatte Helene die Augen zu neuem Leben auſgeſchlagen, das langſam zwar, aber um ſo ſicherer wieder dur< ihre Adern zu pulſiren begann. Als endlih die linden Lüfte erwaht und der Mai herangefommen war, da durfte die junge Frau es zum erſten Male wagen, in das Freie zu gehen und den lihten Sonnenſchein auf ſih herabſtrahlen zu laſſen.

Es wax ein allgemeiner Feſttag geweſen, als Helene zum erſten Male wieder im Garten ſih erging, und auh der alte Knorr und ſein zurü>gekehrter Sohn nahmen daran Theil. Auch dem blühenden, ſtattlichen jungen