Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3

180 Elſte Dronung: Paarzeher; dritte Familie: Horntiere.

Jn ſtillen, vom Menſchen wenig beſuchten Hochthälern äſt das Steinwild in den Vorund Nachmittagsſtunden, in Gebieten dagegen, wo es Störung befürchtet, nux in der Frühund Abenddämmerung, vielleiht auh des Nachts. Leere Alpenkräuter, Gräſer Baumfnoſpen, Blätter und Zweigſpißen, insbeſondere Fenchel- und Wermutarten, Thymian, die Knoſpen und Zweige der Zwergweiden, Birken, Alpenroſen, des Ginſters und im Winter nebenbei auh dürre Gräſer und Flechten bilden ſeine Äſung. Salz liebt es außerordentlih, erſcheint daher regelmäßig auf ſalzhaltigen Stellen und bele>t dieſe mit ſolcher Gier, daß es zuweilen die ihm ſonſt eigene Vorſicht vergißt. Ein auf weithin vernehmbares, eigentümliches Grunzen drüct das hohe Wohlbehagen aus, welches dieſer Genuß ihm bereitet.

Die Paarungszeit fällt in den Fanuar. Starke Böcke kämpfen mit ihren gewaltigen Hörnern mutvoll und ausdauernd, rennen wie Ziegenbö>e aufeinander los, ſpringen auf die Hinterbeine, verſuchen den Stoß ſeitwärts zu rihten und prallen endlih mit den Gehörnen heftig und geräuſchvoll zuſammen. An ſteilen Gehängen mögen dieſe Kämpfe zuweilen gefährlih werden. Fünf Monate na< der Paarung, meiſt Ende Juni oder Anfang Juli, wirft die Ziege 1 oder 2 Junge, an Größe etwa einem neugeborenen Zidlein gleich, le>t ſie tro>en und läuft bald darauf mit ihnen davon. Das Steinzi>lein, ein äußerſt niedliches, munteres, wie Schinz ſagt, „ſ<hmeichelhaftes“ Geſchöpf, kommt mit feinem, wolligem Haare bede>t zur Welt und kleidet ſich erſt vom Herbſte an in ein aus ſteiferen, längeren Grannen beſtehendes Gewand. Bereits wenige Stunden nach der Geburt erweiſt es ſi< faſt als ebenſo kühner Bergſteiger wie ſeine Mutter. Dieſe liebt es außerordentlich, le>t es rein, leitet es, me>ert ihm ſreundlih zu, ruſt es zu ſi, hält ſich, ſolange ſie es ſäugt, mit ihm in den Felſenhöhlen verborgen und verläßt es nie, außer wenn der Menſch ihr gar zu aefährlih ſcheint, und ſie das eigene Leben retten muß, ohne wel<hes auch das ihres Kindes verloren ſein würde. Bei drohender Gefahr eilt ſie an fürhterlihen Gehängen hin und ſucht in dem wüſten Geklüfte ihre Rettung. Das Zi>lein aber verbirgt ſih äußerſt geſchickt hinter Steinen und in Felſenlöchern, liegt dort mäuschenſtill, ohne ſih zu rühren, und äugt und lauſ<ht und wittert {harf nah allen Seiten hin. Sein graues Haarkleid ähnelt den Felswänden und Steinen derart, daß auh das ſchärfſte Falkenauge nicht im ſtande iſt, es wahrzunehmen oder vom Felſen zu unterſcheiden, und dieſer vertritt daher einſtweilen Mutterſtelle. Sobald die Gefahr vorüber iſt, findet die gerettete Steinziege ſicher den Weg zu ihrem Kinde wieder; bleibt ſie aber zu lange aus, ſo kommt das Steinzi>lein aus ſeinem Schlupfwinkel hervor, ruft nah der Alten und verbirgt ſih dann ſ{hnell wieder. Wird die Mutter getötet, ſo flieht es anfangs furchtſam und entſeßt, kehrt aber bald und immer wieder um und hält lange und feſt an der Gegend, wo es ſeine treue Beſhüßerin verloren.

Mit ihren nahen Verwandten, unſeren Hausziegen, paaren ſih die Steinbö>ke ohne ſondexliche Umſtände und erzeugen Blendlinge, welche wiederum fruchtbar ſind. Solche Vermiſchungen kommen ſelbſt während des Freilebens der Tiere vor: zwei Hausziegen im Cognethale, welhe den Winter im Gebirge zugebracht hatten, kehrten, wie Schinz mitteilt, im darauffolgenden Frühjahre trächtig zu ihrem Herrn zurü> und warfen bald unverkennbare Steinbosbaſtarde. Echte Steinböcke paarten ſih in Schönbrunn wie in Hellbronn wiederholt mit paſſend ausgewählten Hausziegen und erzeugten ſtarke und kräftige Nahkommen, welche in der Regel dem Steinbo>e mehr glichen als der Ziege, obgleich ſie im Gehörne mit dem Ziegenbo>e no< große Ähnlichkeit hatten. Fhre Färbung war ſehr veränderlich; bald ähnelten ſie dem Vater, bald wiederum der Mutter. Die aus der Kreuzung des Steinwildes mit der Hausziege hervorgegangenen Blendlinge wurden wiederum mit Steinbö>en gepaart, und ſo erhielt man Nachkommen, welche no< größere Ähnlichkeit mit dem Steinwilde zeigten, bis man dur<h no<malige Vermiſchung der nunmehr gewonnenen Zut une<ter Steinbö>e Tiere erzielte, welhe kaum noh von der Urart zu unterſcheiden waren.