Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3

Bezoarziege: Verbreitung. Leben8weiſe. Fortpflanzung. Blendlinge. 193

anderen Fnſeln Kunde gewonnen habe und im Mai des Fahres 1854 in den Beſiß einer auf Eremonmelos oder Antimelos, einem kleinen, aber ſehr hohen und faſt unwegſamen Felſeneilande, erlegten Wildziege gekommen ſei. Der von ihm unterſuchte Balg eines erwachſenen männlichen Tieres im Sommerkleide ſchien ihm mit der Beſchreibung des Bezoarbo>es niht übereinzuſtimmen, und er ſah ſih deshalb veranlaßt, das fragliche Tier unter dem Namen A egoceros pictus als neue Ziegenart zu beſchreiben. Fn ſeiner Anſicht wurde er beſtärkt, nachdem er im Frühlinge des Fahres 1856 einen von der Jnſel Foura ſtammenden, etwa 3 Monate alten Bo> mit dem ſeinigen verglichen hatte und in leßterem wie auch in dem ihm ſpäter von Kreta zugegangenen Stücke die Bezoarziege erkannte. Nachdem aber durch die Bemühungen des engliſhen Konſuls Sandwith auf Kreta ein lebender Bo der hier vorkommenden Wildziege nah London gelangt war, ſtellte man die Arteinheit aller Wildziegen der Griechiſchen Meere und der Bezoarziege feſt, und ſomit zählen wir nunmehr die leßtere auh zu den europäiſchen Tieren.

Gleihwohl hat Reichenow neuerdings wieder nah Jouraziegen des Berliner Tiergartens die auf dieſer Fnſel vorkommende Art als Capra dorcas unterſchieden. Sie iſt möglicherweiſe eine verwilderte Hausziege und gleicht Blendlingen der leßteren mit der Bezoarziege. Die auf den Gebirgen des Feſtlandes vorkommende ſogenannte Wildziege ſoll, nah Erhard, mit der Bezoarziege nichts zu thun haben und nichts anderes als die Gemſe ſein. Dagegen ſollen engliſhe Jäger von Korfu aus die albaniſchen Hochgebirge beſuchen, um dort auf Wildziegen zu birſchen; es erſcheint demna<h niht unwahrſcheinlich, daß der Paſang auch in dieſem bis jeßt noh ſo überaus wenig bekannten Teile Europas vorkommt.

Über das Freileben der Bezoarziege auf den vorher genannten Fnſeln gibt Erhard eine ſpäter dur< Sandwith vollkommen beſtätigte Mitteilung. Auf Kreta findet man unſere Ziege noh auf den meiſten Gebirgen, namentli<h aber um und auf dem Jda, welcher ſih zu 2450 m Höhe erhebt, in bedeutender Anzahl. Gewöhnlich ſieht man Herden von 40—50 Stück beiſammen, welche ſih jedo< mit Beginn der Paarungszeit, in der Mitte des Herbſtes, in kleinere Rudel von 6—8 Stü auflöſen. Die Ziege wirft meiſt noh vor Beginn des Frühlinges zwei, ſeltener drei Junge, welche vom Tage ihrer Geburt an der neu ſi bildenden Herde zugeſellt werden. Zuweilen begatten ſich die Bezoarziegen auch mit ihren gezähmten Abkömmlingen oder Verwandten und erzeugen dann Blendlinge, welche, der Sitte des wilden Vaters getreu, fern von jeder menſhlihen Wohnung auf den hohen Spizen des Jda ſchwer zugängliche Standorte ſuchen. Ein ſolcher Blendlingsbo> größer als jeder andere ſeiner Verwandten, ſoll ſich in den fünfziger Jahren auf dem Jda umhergetrieben haben und wegen ſeines bis zum Weiß ergraueten Haares ein allen Hirten wohlbekanntes Tier geweſen ſein. Saftige und dürre Kräuter faſt ohne Wahl werden als Äſung gedachter Wildziegen angegeben; doh ſollen ſie den Kapernſtrau<h mit Vorliebe aufſuchen. Auf Antimelos lebte unſere Ziege von jeher in viel kleineren Herden und in den oben exwähnten Fahren nur noch in einzelnen Stüen; ihre raſche Verminderung aber ſoll weniger der Jagd als dem Umſtande zuzuſchreiben ſein, daß Schafe, welche vor Jahren auf das Eiland zur Weide gebraht wurden, ihnen eine Seuche mitgeteilt haben, an welcher viele zu Grunde gingen. Da auf dem beſchränkten Gebiete der kleinen Fnſel weder Baum noh Grashalm wächſt, ſo kann die Äſung, laut Erhard, nur in Knoſpen der alle Jnſeln des Kykladenmeeres reichlich überziehenden Stachelkräuter, namentlich des Ginſters, Strauchbibernells, des Sumachs, der Tamariske, des Thymians, Wundklees, Pfefferkrautes 2., beſtehen.

Jm weſtlichen Aſien, wo die Bezoarziege in allen höheren Gebirgen lebt und meiſt ſehr zahlreich auftritt, bewohnt ſie, laut Kotſchy, regelmäßig einen Höhengürtel von 1500 m an aufwärts, am liebſten diejenigen Stellen des Gebirges, wo um die kahlen Felsſpißen hohe, gelblihblühende Doldengewächſe, ihre hauptſächlichſte Äſung, in reichlicher Fülle wachſen.

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Brehm, Tierleben, 3. Auflage. II.