Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3

194 Elſte Ordnung: Paarzeher; dritte Familie: Horntiere.

Nach Angabe türkiſcher Jäger, welche ſie Geji>, die alten Böke Thöke nennen, liebt ſie wie der Steinbo> die Gipfel der Berge und die Nähe des ewigen Schnees und der Gletſcher. Anderen Angaben zufolge ſteigen die Tiere frühzeitig am Morgen von dem Walde, in welchem ſie die Nacht verbrachten, zu den Höhen empor, weiden auf dem Gipfel und auf den höchſtgelegenen Gehängen der Gebirge oft in unmittelbarer Nähe der Gletſcher und kehren des Abends na< den Wäldern zurü>.

Jn ihrem Auftreten, Weſen und Gebaren erinnert die Bezoarziege lebhaſt an den Steinbo>. Raſch und ſorglos läuft ſie auf ſhwierigen Wegen dahin, ſteht oft ſtundenlang, ſ<windelfrei in die ungeheuern Abgründe ſhauend, auf vorſpringenden Felsza>en, ftlettert vortrefflih und wagt gefährliche Säße mit ebenſoviel Mut wie Geſchi>. Sie iſt außerordentlih {heu und weiß den meiſten Gefahren zu entgehen. Fhre Sinne ſind vortrefflich entwi>elt: ſie wittert auf ungeheuere Entfernungen hin und vernimmt auch das leiſeſte Geräuſ<h. Auch ihre geiſtigen Fähigkeiten ſtehen ungefähr auf derſelben Stufe wie die des Steinwildes.

Während der Paarungszeit, welche in den November fällt, kämpfen die Böe hartnäctig und gewaltig miteinander, wie die Scharten und halb abgeſtoßenen Splitter an der Vorderfante der Hörner zur Genüge beweiſen. Der Saß erfolgt im April oder Mai, und zwar bringen jüngere Ziegen ein oder zwei, ältere regelmäßig zwei, niht allzuſelten aber auh drei Zi>lein zur Welt. Dieſe folgen der Mutter ſofort nah der Geburt, vom dritten Tage ihres Lebens an ſelbſt auf den ſhwierigſten Pfaden, wachſen raſh heran und ſind, wie alle Ziegen, jederzeit zu Scherz und Spiel geneigt.

Um ſolche Fungen zu fangen, begeben ſi, laut Kotſchy, mehrere gute Bergſteiger des ciliciſhen Taurus, bevor noh die Gerſtenernte in den Gebirgsdörfern beginnt, nah den Höhen und ſpähen nah trähtigen Bezoarziegen aus, welche vor dem Wurfe einen {<hwer zugänglichen Lagerplaß zu erwählen und regelmäßig zu ihm zurü>zukehren pflegen. Jt eine ſolche Ziege aufgefunden und der Zugang zu ihrem Lager als mögli erachtet worden, ſo bleiben die Bergſteiger in ihrem Verſte>e, das Tier beobachtend, bis es geworfen. Am dritten Tage nach der Geburt verſuchen ſie das Zi>lein zu fangen, indem ſie die Ziege in die Flucht ſcheuchen. Nach gelungenem Fange eilt man mit der gewonnenen Beute ſofort in das Dorf hinab, um das junge Wildzi>lein einer Hausziege, welche kurz vorher zum erſtenmal geworfen hat, in Pflege zu geben. Unſere Tiergärten erhalten lebende Bezoarziegen no< immer rect ſelten, obgleih der Verſand der von früheſter Jugend an eingewöhnten Tiere dieſer Art wenig Schwierigkeiten bereitet.

Jn Weſtaſien treten den Bezoarziegen mehrere Raubtiere feindlih entgegen. Pardellu<s und Panther werden im Taurus, Tiger und Löwe in den perſiſhen Gebirgen den alten, mehrere Adler und vielleicht auh der Bartgeier allüberall den jungen gefährlih. Gelegentlih der Beſteigung des hohen Demawend in Nordperſien wurde Kotſchy Augenzeuge einer vom Tiger ausgehenden Verfolgung der Bezoarziegen, welhe aus Furcht vor dem ſ{limmen Feinde die ihnen ſonſt eigene Scheu verloren und ſih unter die weidenden Maultiere unſeres Berichterſtatters mengten, um hier Schuß zu ſuchen. Erſt als einer der Treiber erſchre>t auf einen Tiger zeigte, welcher auf einer Anhöhe, den Ziegen gegenüber, in einer Entfernung von kaum 500 Schritt ſihtbar wurde, erklärte ſich das bis dahin unbegreifliche Gebaren der Wildziegen.

Ein noh heute vielfach verbreiteter, obſchon längſt widerlegter Aberglaube iſt Urſache, daß in vielen Ländern Aſiens auh der Menſch den munteren Gebirgskindern eifrigſt nachſtellt. Jn dem Magen der erlegten Bezoarziegen vermeint man nämlich jene Kugeln, welche zu dem Namen unſerer Tiere Veranlaſſung gegeben haben, häufiger als bei anderen Wieder: fäuern zu finden, und führt deshalb überall da, wo man noh an die Wunderkräfte der