Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 3

30 Ein Blick auf das Leben der Geſamtheit,

Veranlaſſung werden, ſpäter einmal dieſelbe Schlange zu ſhonen. Bei genauerer Kenntnis wird man bald die harmloſe Schlingnatter und die Ringelnatter von der giftigen Kreuzotter unterſcheiden und au< an dem Thun und Treiben der nichtgiftigen Stlangen ſeine Freude haben können. Sind wir doh in Deutſchland jezt ſo weit, daß wir die Verbreitung der Giftſchlangen in unſerem Vaterlande nahezu vollſtändig kennen und ganze Landſtriche aufzählen können, in welchen Kreuzottern und Vipern niemals vorgekommen ſind und niemals vorkommen. Es wäre unmenſ<hli<, von unſerer Seite den grauſamen Rat zu geben, in der Rheinpfalz, im Großherzogtum Heſſen und an vielen anderen Orten alle Schlangen totzuſchlagen, die uns draußen in freier Natur aufſtoßen, nur aus dem Grunde, weil ſi vielleiht darunter eine Kreuzotter befinden könnte, die einen Menſchen zu gefährden im ſtande wäre. Wo die Kreuzottèr wirklich lebt, kennt man ſie, kennt ſie jedes Kind, da Eltern und jeder deutſche Lehrer, welcher ſeine Pflicht thut, ſhon in der unterſten Schulklaſſe auf die große Gefährlichkeit dieſes Giftwurmes hinweiſen. Wo ſie vorkommt, vertilge man ſie und ihre Brut; wo ſie fehlt, hone man alle Schlangen, denn ſie haben dieſelbe Berechtigung, ſi< ihres Lebens zu freuen, wie der Menſch!

Jn längſt vergangenen Zeiten verehrten die Menſchen diejenigen Kriechtiere, welche ihnen Furt einflößten , göttlih. Die alten Ägypter hielten ſi<h zahme Krokodile in der Nähe ihrer Tempel und balſamierten deren Leichname ſorgfältig ein; Oſtaſiaten, insbeſondere Chineſen und Fapaner, bildeten aus Schlangen- und Echſengeſtalten die Bildniſſe ihrer Götter; Griehen und Römer wendeten die Schlangen ſinnbildlih an und fabelten und dichteten von ihrer Liſt und Klugheit, von ihrer Weisſagungskraft und anderen Eigenſchaften; unſere Sage beſchäftigt ſih ebenfalls auf das angelegentli<ſte mit ihnen und Éeineswegs immer mit Abſcheu, ſondern mit ſihtlihem Wohlbehagen, läßt die alte, geträumte Urmutter des Menſchengeſchlehtes durch ſie ſih ſelbſt und ihren Gatten verführen, wie die römiſche den Weltenbeherrſcher ſih in eine Schlange verwandeln, um eine der unzähligen Evenstöchter, welcher der liebesbedürſtige Gott ſih inniger zuneigte, zu berü>en; Krokodile und Schlangen werden no< heutigestags von rohen Völkern verehrt und angebetet. Aber die alten Ägypter haben uns auch bewieſen, daß ſie Maß und Ziel zu finden wußten. F< ſelbſt habe in der Krokodilshöhle von Maabde bei Monfalut, in welcher die

umien der heiligen Tiere aufgeſtapelt wurden, Tauſende von jungen Krokodilhen und Krokodil8eiern geſehen, von welchen gewiß niemand wird behaupten dürfen, daß ſie erſt nah natürli<h erfolgtem Tode einbalſamiert wurden, die vielmehr deutlih genug darthun. daß die Ägypter zunächſt ſi ſelbſt zu ſichern ſuhten und das ihrige zu thun glaubten, wenn ſie dem ihrer Meinung nach vertriebenen und zu Fahrtauſende langer Wanderung verurteilten Krokodilgeiſte ſeine irdiſche Hülle erhielten, es den Nachkommen überlaſſend, ſih gegen die Unthaten der etwa wiederum beſeelten Mumien zu ſ{hügen. Wir glauben niht mehr an Sternreiſen der Krokodil- und anderer Geiſter, brauchen ſie alſo niht einzubalſamieren: aber wir handeln noh genau ebenſo wie die alten Ägypter, zugleih auh entſchieden ſhriftgemäß, wenn wir den uns ſchädlih werdenden Kriechtieren feindlich entgegentreten und denen, die uns in die Ferſe ſtehen, „den Kopf zertreten“.