Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 5

22 Ein Blick auf das Leben der Geſamtheit.

eines erhabenen Zuſtandes ihres Lebens an, eines Zuſtandes, in welchem alle ihre Fähigkeiten entwidelt werden und ſie zur Vollendung ihrer Natur gelangen, wo ſie, niht mehr an die Erde gebunden, die Gefilde der Luft dur{ſtreifen, den Nektar ſaugen aus Blumenkelchen und Liebe ihre beſeligende Herrſchaft über ſie auszuüben beginnt. Wenn wir dies alles mit anſehen, ſollten wir darin niht ein lebhaftes Bild von dem dreifachen Zuſtande erbli>en, in welchem ſich der Menſch nah und nach befindet, und beſonders von jenem glü>lihen Tage, wo auf den Ruf der großen Sonne der Gerechtigkeit alle die, welche in den Gräbern ruhen, hervortreten, wo das Meer ſeine Toten wiedergeben und der Tod von dem Leben vernihtet wird, wo die Scharen der Glülichen leben und lieben werden in alle Ewigkeit ?“

Der vergoldete Schmetterling auf den Grabkreuzen unſerer Verſtorbenen ſoll, wie es ſich jeder am liebſten deuten mag, ein Sinnbild ſein: für die Auferſtehung, bei einem ähnlichen Gedankengange eines Swammerdam, oder für die Unſterblichkeit der Seele die dem hinfälligen Körper entwichen iſt, wie der dem himmliſchen Lichte entgegenſ<webende Schmetterling ſeiner auf der Erde zurü>bleibenden Puppenhülle.

Wißt ihr niht, daß wir Würmer ſind, Geboren, um den engelähnlihen Schmetterling zu bilden ?

Die Entwi>elung der Fnſekten, mag ſie nun, wie bei der unvollkommenen Verwandlung, in ſtetigem Fortgange oder, wie bei der vollkommenen, ſcheinbar ſprungweiſe ſi vollenden, iſt in der That eine allmähliche, von mehrmaligen Häutungen der Larve begleitete. Die Häutungen erfolgen nah beſtimmten Zeitabſchnitten, für die einen früher, für andere ſpäter, wiederholen ſih öfters oder ſeltener, jedoh meiſt niht häufiger als ſe<smal, und tragen den Charakter einer Krankheit an ſih. Die Larven ſißen regungslos da, nehmen feine Nahrung zu ſi und ſind in dieſer Zeit außerordentlich empfänglich für äußere Einflüſſe, beſonders die ungünſtigen der Witterung, bis endlih im Nacen die alte Körperhaut zerreißt und ſih unter krampfhaften Windungen das neu bekleidete Weſen, bisweilen mit anderer Färbung, anderem Schmu>e angethan, daraus hervorarbeitet. Die Umwandlung geſchieht aber niht bloß äußerlich, das ganze innere Weſen nimmt teil an der Verjüngung, die Luſftröhren, der Nahrungskanal ſtoßen ihre citinigen Auskleidungen ab und erleiden allmählih ſogar weſentlihe Veränderungen; denn die im Waſſer lebenden Larven verlieren bei der legten Häutung ihre Kiemen, die bekanntlich kein vollkommenes Jnſekt beſizt. Bei den freilebenden Larven finden die Häutungen ausnahmslos ſtatt, aber niht immer bei ſolchen, welche, abgeſchloſſen von der äußeren Umgebung und deren Einflüſſen entzogen, in anderen Tieren leben. Es ſcheint, abgeſehen von dem beſtimmten Bildungsgeſebe, dem die einzelne Art unterworfen, daß das Abwerfen der Haut nur da nötig wird, wo ſie der Witterungseinflüſſe wegen einen Schuß zu bilden hat, der zu feſt iſt, um bei der Vergrößerung der Körpermaſſe weiter nahgeben zu können. Fn den leßtgenannten Fällen bedarf die Larve dieſes Shußtes nicht, ihre Oberhaut bleibt weicher und elaſtiſh genug, um beim fortſhreitenden Wachstum immer no<h weit genug zu ſein. Der Stand der Larven iſt für die Fnſekten die einzige Zeit ihres Wachstums, daher die unerhörte Gefräßigkeit und der vorherrſchend entwidelte Verdauungskanal. Jn 24 Stunden kann beiſpiel8weiſe eine Shmetterlingsraupe mehr als das Doppelte ihres eignen Gewichtes an Pflanzennahrung zu ſi< nehmen und dadurch ein Zehntel ihrem früheren Gewichte hinzufügen, welches ſi<h in 30 Tagen auf das 9500fache ſteigert, wenn man es mit dem vergleicht, was ſie im Augenbli>e ihrer Geburt hatte. Welche Verheerungen die von Pflanzenſtoffen lebenden Larven in unſeren Gärten und Wäldern, auf Feldern und Wieſen anrichten können, wiſſen diejenigen am beſten zu beurteilen, welhe den Schaden zu tragen hatten.

Die Larven der Fnſekten mit vollkommener Verwandlung haben vorherrſchend eine geſtre>te, durch gleihmäßige Ringelung geſchloſſene Geſtalt, ſind darum aber keine „Würmer“,