Die Physiognomie des Menschen

zugehen, wie man von der Art der Ammen und von der Erziehung eines Menschen auf seinen Charakter schließen kann; denn gute und schlechte Sitten trinken die Kinder mit der Milch. Bei Gellius lesen wir als Meinung des Philosophen Phavorinus: Wie die Kraft und Art des Samens großen Einfluß auf die Gestaltung des Leibes und der Seele hat, so auch die Art und Eigenschaft der Milch. Avicenna sagt, man müsse sorgsam auf den Charakter der Amme achten, der gut und löblich sein solle und den Leidenschaften des Zorns, der Traurigkeit, der Furcht usw. nur schwer zugänglich; denn alles das verschlechtert die Körperzusammensetzung und geht in die Milch über, daher denn manche einer Törin das Säugen verbieten. So ist es auch beim Vieh; wenn man ein Böcklein mit Schafmildh, ein Lamm aber mit Ziegenmilch aufzieht, so bekommt letzteres eine härtere Wolle, jenes weichere Haare. Es ist nicht verwunderlich, daß manche Kinder ihren ElItern weder an Leib noch an Seele gleichen, da ja der Geist der Amme und die Art der Milch auf die Bildung des Charakters einen so großen Einfluß haben. Homer sagt von Achilles: „Peleus kann nicht dein Vater sein, nicht Thetis die Mutter, stammen mußt du vom Meer und den Felsen, &0 rauh ist dein Herz.“ Und ähnlich Virgil im vierten Buch der Aeneis: „Nicht von göttlich erhabenen Eltern bist du erzeuget, das verrät mir dein treuloser Sinn, eher stammst du von schrecklichen Felsen, und Tiger säugten dich einstmals.“ Chrysippus”) wünschte daher für die Kinder nur gute, verständige Ammen. Scotus") erzählt, ein lange mit Schweinemilch genährtes Kind habe sich später als Knabe samt seinen Kleidern im Dreck gewälzt und wie die Schweine Kot gefressen; ein anderer Jüngling, der mit Ziegenmilch großgezogen sei, wäre wie ein Böcklein umhergesprungen und habe die Rinde der Bäume benagt. Eine Wölfin säugte Romulus und Remus: so seien sie und ihre Nachkommen, die Römer, räuberisch wie die Wölfe geworden. Ebenso sollen Ly-

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