Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen
Hat aber jemand den bitteren Kelch des Leidens ausgenossen, so zeigt sich an seinen herabgezogenen Mundwinkeln ein bitterer Zug, wie bei dem alten Nansen (XII, 4), der in den Schrecken der Kriegs- und Nachkriegsjahre, die er so gut als möglich lindern half, an der europäischen Kultur die tiefste Enttäuschung erlebte.
Komplizierter ist der genießerische Zug des Mundes, der ein Gemisch aus sehr vielerlei Geschmackseinstellungen darstellt und Lebenslust verrät (Darling IV, 4).
Betrachten wir noch die Mundwinkel, die abermals auf etwas Neues hinweisen, nämlich auf die Einstellungen zu den eigenen Affekten und Trieben, zu Lust und Unlust. Die Mundwinkel werden vom Willen nicht so gut beherrscht wie etwa die Lippen und sind daher das empfindlichste Seelenbarometer, an dem auch ein verstelltes Gesicht, eine Maske entlarvt werden kann. Doch dies gehört in ein späteres Kapitel und stellt schon eine schwierigere Aufgabe dar. Hier wollen wir nur auf die einfachsten Ausdruckszüge der Mundwinkel hinweisen. Jeder weiß, daß aufwärtsgezogene Mundwinkel eine gehobene Seelenstimmung verraten, abwärtsgezogene eine gedrückte.
Die Bilder Vergine (IV, 6) und Brink (X, 3) zeigen aufwärtsgerichtete Mundwinkel und weisen auf ein Gefühl der Lust hin, dem auch ihr Lächeln Ausdruck gibt. Beim Lachen (XI, 3) erscheinen außerdem die Nasenlippenfalten, die von den Nasenflügeln in einem seitlichen Bogen gegen die Mundwinkel führen, stark vertieft.
Umgekehrt lernten wir abwärtsgerichtete Mundwinkel schon als Begleiterscheinung des bitteren Zuges an Nansen (XII, 4) kennen, als Zeichen des Mißmutes und der Unfrohheit. Wo sie als Dauersymptom abwärtsgerichtete Furchen in der Verlängerung der Mundwinkel zurücklassen, deuten sie auch in der lächelnden Physiognomie auf leichte Veränderlichkeit, auf den seinen Stimmungen unterworfenen
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