Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

gegeben ist. — Frank Wedekinds Blick gibt uns ein Rätsel auf (VIII, 5): er ist abgedeckt, hat konvergente Augachsen, schaut also einen bestimmten Gegenstand an, schaut nach außen, ist zum Beschauer gerichtet, ist ruhig — lauter Kontaktmomente, und doch werden wir keinen Augenblick im Zweifel sein, daß Wedekind den Gegenstand nicht im Rahmen eines Alltagsinteresses, sondern eines eminenten Kulturinteresses betrachtet. Wo ist also der offene Zug, der doch gerade für die Einstellung auf Kulturbelange charakteristisch ist? Kein Zweifel, es kann sich nur um das noch nicht angeführte sechste Kontaktmoment, die Aufmerksamkeit, handeln; Braue und Stirn sind offen, wir haben also in der Urteilsstellung einen Fall von geteilter, doppelt zentrierter Aufmerksamkeit vor uns (vgl. die Zentrierung des Blicks): die Aufmerksamkeit ist zwar auf den Einzelgegenstand gerichtet, kommt aber aus einem umfassenden, d. h. einem’ Kulturzentrum. Sie verleiht dem betrachteten Gegenstand nicht das Merkmal der Einzelnheit, sondern der Einmaligkeit.

Wie wir nach den Steuerungszentren des Ausdrucks drei Ausdrucksschichten unterscheiden konnten: eine Triebschicht, eine Willensschicht und eine Wahrnehmungsschicht der Feineinstellung, so kann, je nach der Art der vorherrschenden Bezugswendung, eine Reizzentrierung oder Orientierung des Ausdrucks nach drei Sphären unterschieden werden, der des Individuums selbst, der des sozialen Milieus und der der Kultur. Eine immer umfassender als die andere, freilich nach exakt beschreibbaren Indizien nicht immer leicht im Ausdruck faßbar.

6. Die Ausdrucksstärke

Jeder wird schon die Beobachtung gemacht haben, daß es ausdrucksstarke Gesichter gibt, die vor Lebendigkeit sprühen und aus denen jede Seelenregung erraten werden kann, und andre wieder, deren Züge so unbewegt und steinern

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