Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

Stufe wieder, so daß zuletzt die Umrißform der erreichten Endphase gleichgültig wird: ob Heilige, ob Mutter, ob Dame, welcher Art die Phase der Funktionsbefriedigung des Triebausdrucks sein mag, befriedigt oder unbefriedigt, dies allein ist für das Formniveau nicht mafgebend. Es kommt darauf an, daß man den Ausdrucksschichten ansehe, wie oft sie diese Wegperiode zwischen Befriedigung, Umweg und abermaliger Befriedigung durchgemacht haben, in welchem Grade also schon jede einzelne Ausdrucksschicht veredelt ist. Auf dem Bilde der Sixtinischen Madonna (Tafel V) hat die heilige Barbara durchaus feine Züge, der heilige Sixtus noch feinere und doch sind beide nicht wurzellos, sondern von tiefer Innerlichkeit erfüllt. Die Madonna hat eher mittelfeine Züge und steht doch dem Formniveau nach höher als die Mädchengestalt; und dasselbe gilt vom Christkind im Vergleich mit den beiden Engelsgestalten zu Füßen.

Noch einmal Wedekind (VIII, 5): Schlichteste Alltagsorientierung in den abgedeckten Bezugswendungen, nur der Denkvorhang ist aufgezogen in Brauen und Stirn, wir raten auf Urteilsstellung und innere Zentrierung der Aufmerksamkeit. Daraus aber dürften wir noch immer nicht auf das hohe Formniveau schließen, wenn nicht außerdem die gespannteste Feineinstellung in der Abdeckung bei der klarsten Offenheit der Stirn in die physiognomische Ruhestellung eingegangen wäre; da haben wir ein Beispiel vom Versinken des Ausdrucks in eine tiefere Schicht, und wir deuten auf unbestechlichen Wirklichkeitssinn und großzügiges Urteil. Das sind schon Wertkennzeichnungen eines hohen Niveaus.

Nun noch zu unseren beiden Napoleon-Bildern (III, 1, 2): Schon einmal fanden wir, daß der Kaiser in seinem Krönungsornat, aber auch mit seiner Maske zurückstehe hinter dem menschlichen Antlitz des Konsuls, der, mit fühlenden,

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