Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

4. Die physiognomische Ruhestellung

In den vorhin angeführten Bildern deutete eine gewisse gespannte Einstellung in den Sinnesöffnungen die Herausforderung durch einen Reiz an. Ganz mit sich allein ist nun das Individuum in den folgenden Bildern. Hier sind auch die Sinnesöffnungen selbst, nicht nur ihr Hintergelände beruhigt, und wenn auch diese physiognomische Ruhestellung uns meist keine solchen speziellen Anhaltspunkte mehr bietet, so deckt sie doch anderseits auch keine Züge zu, die für den Charakter vielleicht ebenso wichtig und kennzeichnend wären und nur in der betreffenden Situation nicht zur Geltung kommen; an dieser verhältnismäßig allseitigen Entspannung ist die Ruhestellimg auch zu erkennen und sie liefert im allgemeinen, wenn sie sich nicht schon zu sehr der Zurückhaltung oder einer unwillkürlichen Verhängtheit nähert, die verläßlichste Grundlage für eine Charakterbeurteilung. Natürlich werden auch hier oft spezielle Ausdruckszüge besonders hervortreten, wie wir z. B. die etwas seitliche, durch Gefühlsablenkung motivierte Haltung sowohl unsres Modells Michaela (IV, 2) wie der Vergleichsperson Rosl (IV, 5) durchaus nicht zufällig fanden. Man pflegt in der Regel beim Photographen ‘eine Ruhestellung einzunehmen, um nicht lächerlich zu wirken. Wenn wir aber nach der Methode „Wähle dein Bild!“ 25 Aufnahmen vor uns haben, werden nur wenige dieser Bedingung der Ruhe stellung oder auch nur des charakteristischen Ausdrucks genügen, so wie auch unser Modell IV, 2 aus einem Dutzend Bilder herausgewählt wurde (vgl. dazu auch das im folgenden Kapitel über den fruchtbaren Moment zu Sagende). Wenn wir schon anschaulich und gefühlsmäßig Form- und Spannungsunterschiede wahrnehmen, so ist unsre Empfindung für Extremlagen, wie die Ruhestellung mit ihrer Entspannung eine ist, besonders ausgebildet. Solche Ruhestellungen boten uns Adolf Loos (IX, 4) oder auch Al Capone

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