Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen
muß, hat es freilich schwerer — und leichter zugleich. Schwerer: er hat keinen geschulten Stab zur Verfügung und kann höchstens Kurs- und Vortragsauditorien zurate ziehen oder sonst gelegentlich Personen, deren Hilfe ihm nahe zur Hand ist. Leichter: dafür wird seine eigene Verantwortlichkeit ihrer Kraft bewußter, seine Übung feiner und schärfer, die Stoßkraft seiner Phantasie, die schließlich auch der exakteste Forscher, wenn er neue Wege finden will, nicht entbehren kann, unbeschwerter und freudiger. Er bezieht so eine Mittelstellung zwischen dem praktischen Menschenkenner, der, im Kampf ums Dasein stehend, und zwar nicht selten an leitender Stelle, bloß seine angeborene Begabung an natürlicher Durchschauungskraft walten läßt, und dem Universitätsdozenten, der eine große Zahl von Dissertationen und Spezialarbeiten nach dem objektiv statistischen Verfahren verarbeitet. Der praktische Physiognomiker ist dem natürlichen Menschenkenner überlegen durch die Systematik seiner Methode und dem vorsichtig tastenden Akademiker nicht selten durch die Stärke seines intuitiven Urteilsvermögens. Dennoch sind die Verfahrensweisen hiemit noch nicht erschöpft, und es gibt — zum Trost des eingeschüchterten Laien sei es gesagt — Fragen, die dringend nach der Mitarbeit sehr weiter, auch privater Kreise verlangen, z. B. die Frage der Berufsphysiognomie. Wir würden hier einem großen Vorbild folgen, Charles Darwin, der, wie wir hörten, auf unserm ureigenen Arbeitsgebiet, der Lehre vom menschlichen Ausdruck, Fragebogen in alle Welt versandte und, weit entfernt davon, sich auf akademische Kreise zu beschränken, aus den Antworten wichtige Resultate erarbeitete. In der Physiognomik ist dies möglich, weil es sich um ein so überaus lebensnahes Gebiet handelt. So sehr analysiert und zergliedert wird, so schnell läßt sich wieder zusammensetzen, und die Physiognomie ist, wie wir lernten, eine der
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