Illustrierte Geschichte des Orientalischen Krieges von 1876-1878. : mit 318 Illustrationen, Plänen, Porträts und zwei Karten

gelang es den Juſurgenten imuier wieder, die Scharten auszuwèßen.

So ſehen wir ſie denn am Ende des Fahres 1875 voll Selbſtgefühl den türkiſhen Soldaten

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gegenüberſtehen, getragen von der ſie ermuthigenden Ueberzeugung, daß die Pforte allein nun und nimmer im Stande ſein wird, die Juſurrection zu bemeiſtern,

Geſchichte und Vedeutung der „orientaliſchen Frage“.

Die lauten Friedens-Hymnen, wel<he im abgelaufenen Fahre angeſtimmt worden, ſo oft befreundete Monarchen ſi<h die Hände reiten, fonnten die bange Frage nicht übertönen, die auh zur Jahreswende auf Aller Lippen ſhwebte: „Ft der europäiſhe Friede geſichert?!“ — So viel Friedensbürgſchaſten und doh ſo wenig Friedensvertrauen, ſo viel beſhwichtigende Erklärungen und do< wollte die Beruhigung in die Gemüther niht einkehren !

Jn der That trug die damalige allgemeine Lage kein friedlihes Gepräge, Bis an die Zähne

bewaffnet, ſahen die Großmächte des Feſtlandes *

den kommenden Ereigniſſen entgegen. Die in Waffen ſtarrenden Staaten widerlegten die friedlihſten Kundgebungen der Diplomaten, die herzlichſten Wünſche der Monarchen - Begegnungen. Nur zweifelnd ſah man in dem Drei-KaiſerBündniſſe die Grundlage des europäiſchen Friedens, denn Gefahr drohend erhob ſi<h das Nieſengeſpenſt der „orientaliſhen Frage“ — das iſt nämlih der Frage des Fortbeſtehens der Türkei, inſofern dieſelbe von den europäiſchen Großmächten abhängt. Sie gipfelt wohl au< überhaupt in den Angelegenheiten des Orients (einſhließli<h Perſiens und Judiens), ſowie der Türkei und ihrer inneren Zerwürfniſſe.

Die Geburt der „orientaliſ<hen Frage“ fällt {hon in jene Zeit, wo es weder Chriſtenthum und Jslam, no< Serben und Türken gab; dieſe Frage bewegte ſi< nicht überall zwiſchen dem Oſten und Weſten, obgleich die eigenthümliche Berbreitung des Menſchengeſchlehtes über den Erdboden es mit ſi< brachte, daß die Gegenſäße, welche in den Kampf geriethen, zumeiſt zwiſchen Sonnen-Aufund Niedergang ſi< vollzogen und in vielen Fällen fi< jene Halbinſel zwiſhen Europa und Aſien zu ihrem Schauplaß wählten.

Schon in den Perſerkriegen, welche die Griechen vier Jahrhunderte vor der Entſtehung des Chriſtenthums auszufe<hten hatten, war es eine „orientaliſche Frage“, die einer Löſung harrte, welche ihr endlich der große Alexander von Macedonien gründli< widerfahren ließ. Das Erbe Alexander's wurde den Römern übergeben, welche wieder in anderer Weiſe ihre „orientaliſhe Frage“ zu beantworten ſtrebten, bis endli<h dieſer Meinungs-Gegenſab in einen Religionsfkrieg ſih verwandelte und unter

dem Namen der „Kreuzzüge“ die riſtlih-weltgeſchichtlihe Bedeutung erlangte. Nach dem Erlöſchen dieſer letzteren (1291) gab es noc eine Unzahl Fortſetzungen dieſer und ähnliher Fragen, welche jedoch nur geringe Beachtung fanden, bis das Jahr 1839 eine neue, ſehr heftige Anregung

entzündete."

Abdul Medſchid Khan war ſeinem Vater, dem reformatoriſh geſinnten Mahmud II., gefolgt und wurde niht nur von Syrien aus dur die Egyptier unter Mehemed Ali, ſondern auh von ſeiner eigenen Bevölkerung bedroht, die zum größten Theile dem Reformweſen des vorigen Sultans gewaltſam ein Ende zu machen, große Neigung hatte. Abdul Medſchid ſah ſi<h zum Nachgeben genöthigt; da jedo< der Vicekönig von Egypten alle gütlihen Vorſchläge zurü>wies, legten ſich die Großmächte unmittelbar in's Mittel und begannen über dieſen Fall Conferenzen in London zu halten. Nur Frankreich blieb, aus Rückſicht für Mehemed Ali, hierbei unthätig und war dagegen, ihn dur<h Gewalt zur Anerfennung der Beſchlüſſe der Conferenz zu nöthigen.

Da gab plöbli<h am 3. November 1839 Abdul Medſchid, überredet dur< den das Princip des Fortſchrittes vertretenden Reſch id Paſha, ein förmliches neues Staatsgrundgeſeß, den „Hatiſcherif von Gülhane“. Er ließ die Großwürdenträger des Reiches, die Großen, die Scheiks der Derwiſche, die drei Patriarchen, die Ober-Rabbiner, das diplomatiſche Corps, die Ulemas (geiſtlichen Geſeßlehrer), die Mollahs (Oberrichter), die Vorſteher der Corporationen und viel Volk um den Kiosk von Gülhane (Kiosk der Tulpen, Pavillon der Gärten des neuen Serails) verſammeln und den Hatiſcherif dort verkünden, woher er au< den Namen erhielt. Der Sultan erklärte dur denſelben, daß den Unterthanen Leben, Ehre und Vermögen geſichert, Regelmäßigkeit und Oeffentlichkeit des Rechtes verbürgt, die Auflagen regelmäßig und gleih beſtimmt (die Kopfſteuer der Rajahs alſo wegfallen), die Aushebung aus den Moslems zum Soldaten glei<hmäßig und eine beſtimmte Dienſtzeit feſtgeſeßt werden ſollte. Die Verkäuſlichkeit und Verpachtung der Aemter wurde ausdrülih aufgehoben und die Gleichheit der Rechte jedes / 19*