Illustrierte Geschichte des Orientalischen Krieges von 1876-1878. : mit 318 Illustrationen, Plänen, Porträts und zwei Karten

begab ſi< al3bald na< ſeiner Ankunft direct zu dem noh immer an's Zimmer gefeſſelten deutſchen Reichskanzler, um ihm einen längeren Beſuch abzuſtatten; ein Vorgang, der, von Seiten des ſtolzen Selbſtherrſhers aller Reußen kommend, wohl in Paris die leßten Einbildungen über die wahren Abſichten des Czaren bei ſeiner Reiſe nah Deutſchland zu zerſtören geeignet war. Uebrigens mußte man in Paris auh ſ{<hon wiſſen. daß bereits vor einigen Wochen, kurze Zeit “ nachdem in der Nationalverſammlung zu Verfailles das famoſe Cadres-Geſetß votirt worden war, Kaiſer Alexander dem General Le fl ô, franzöſiſhen Botſchafter in St. Petersburg, einen niht mißzuverſtehenden Wink ertheilt hatte, der darauf hinauslief: er ſei niht gewillt, durch Frankreihs überhaſtete Rüſtungen den Frieden Europas muthwillig ſtören zu laſſen.

Als heitere Epiſode inmitten der ziemlich ernſten politiſchen Verwi>kelungen mochte der Proceß gegen den neuen Bismar>-Attentäter in Wien, Joſef Wieſinger, betrachtet werden.

Bereits am 12. Mai l. F. erhielt der im Gebäude des Wiener Feſuiten-Collegiums domicilirende Feſuiten-Provincial, Pater Aemil Bülow, ein verſiegeltes Schreiben, welchem in einem Umſchlag ein Blatt Papier beigeſhloſſen war, das die Mittheilung enthielt, es werde ſi<h der Unterzeichnete „Wieſinger“ Mittags perſönlich die Antwort auf die in dem verſiegelten Briefe gemachten Anträge holen. Dieſen letzteren zufolge follte Pater Bülow die Vermittelung mit dem Feſuiten-General Pater Be>x in Rom übernehmen. Dex Unbekannte machte ſi< anheiſhig, wenn ihm die Summe von 200.000 Gulden zu „Vorbereitungskoſten“ eingehändigt würde, dem Fürſten Bis mar> „das tödtliche Blei in die Bruſt zu jagen“. Der Hoffnung, daß der verwerflihe Plan gelingen würde und müſſe, wurde in dem Schreiben au<h Raum gegeben. Jn dieſem Falle bedingte ſi<h der Antragſteller eine Belohnung von einer Million Gulden, na< Abzug der bereits als „Vorſchuß“ zu erhaltenden 200.000 Gulden. Ferner verſicherte der Schreiber in einem Poſtſcriptum vollſte Discretion, auch für den Fall, ‘als das Attentat mißlingen und der Mörder ertappt werden ſollte.

Eine halbe Stunde ſpäter begab ſi<h der Feſuiten-Provincial in das Präſidial-Bureau der Polizeidirection und deponirte ohne jede weitere Erläuterung das erhaltene Schreiben ſowie den Beiſchluß dem Polizei-Präſidenten Ritter v. Marx. Dieſer ſete ſofort das Landesgericht in Kenntniß und im Einverſtändniß mit lettgenannter Behörde wurde ein Oberbeamter der Polizeidirection mit einem „Detective“ (Geheim-Poliziſt) ‘für den 15. desſelben Monates in die Wohnung des Pater Bülow deſiguirt;, mit der Weiſung, Wi e-

am 15. d. M. präciſe ein Uhr.

ſinger zu verhaften, wenn er dort erſcheinen ſollte. Der Grund dieſer Maßregel blieb ſowohl dem Beamten als au< ſeinem Begleiter ein Geheimniß; ſie wußten nur, daß ſie in einer howichtigen Angelegenheit zu interveniren hatten.

Jn der erſten Nahmittagsſtunde des 15. Mai erſchien im Gebäude des Feſuiten-Collegiums ein anſtändig gefleideter, etwa fünfunddreißig Fahre alter Mann mit blondem Schnurrbarte und begehrte in ſehr höflicher Weiſe mit dem Provincial zu ſprechen. Sein Auftreten war ſicher und unbefangen. Dieſem Wunſche wurde, einer ſrüher ergangenen Weiſung nach, ſofort willfahren ; doh ehe es zu einem Wortaustauſche kam, traten, auf ein verabredetes Zeichen des Pater Bülow, der Polizeibeamte und der ihn begleitende Detective aus dem Nebenzimmer heraus; Erſterer erklärte Wieſinger — denn dieſer war es — für verhaftet, und brachte ihn unverzügli<h mittelſt Wagens in das Gebäude der Polizeidirection am Schottenring, wo er ein mehrſtündiges Verhör beim Polizeipräſident - Stellvertreter, Hofrathe Weiß, zu beſtehen hatte. Die Protokolle desſelben wurden, entgegen der gewöhnlichen Geſhäfts8ordnung, ſogleich unter Verſchluß durch einen der verläßlihſten Amtsdiener an das Landesgericht in Strafſachen befördert.

Der Jnhaſftirte war ein Kanzliſt, Namens Joſef Wieſinger. Anfangs vermuthete man allgemein, er habe einen Mitſchuldigen; dieſe Annahme wurde aber gerade durch dieſelben Umſtände, denen fie entſprungen war, widerlegt. Nach Ausſage Sachverſtändiger rührte nämlich die Schrift des Briefes und des Zettels von einer und derſelben Hand her, do<h war jene des Schreibers ſo künſtlih verändert, daß der Laie die Täuſchung nicht erkennen, dieſelbe dem Fachmanne jedo< niht entgehen fonnte. Wieſinger hätte ſeinem Mitſchuldigen das Reſultat der Unterredung mit“ Pater Bülow im y Volksgarten“ berichten follen. Der FJnhaftirte wurde darum zu einer beſtimmten Stunde dur<h mehrere Tage unter ſtrengſter Bewachung in die erwähnte Gartenanlage geführt, doh der erwartete Mitſchuldige kam nicht.

Nun wurde Wieſinger aus dem PolizeiGefangenhauſe der Sterngaſſe in das Criminalgebäude gebracht, wo er vor dem Unterſuchungsrihter, Landesgericht8-Adjuncten S008, ein vierſtündiges Verhör zu beſtehen hatte. Dex Plan Wieſinger's ſtellte ſi<h zuleßt als ein gewöhnliher Erpreſſungs8-Verſuch heraus, und ſo ſprachen die Geſhwornen den ſogenannten „Attentäter“ frei. Die ganze Angelegenheit ſank bald in Vergeſſenheit.

Kaum waren die Meinungen, welche man an die Kaiſer-Zuſammenkunſt in Berlin - geknüpft hatte, halb verklungen, ſo meldete der Telegraph,