Illustrierte Geschichte des Orientalischen Krieges von 1876-1878. : mit 318 Illustrationen, Plänen, Porträts und zwei Karten

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Verſchiebung der Machtverhältniſſe eintreten würde, von der zunächſt Deſterreich, in weiterer Linie aber au<h Deutſchland berührt werden würde. Es handelte ſi< für Deſterreih niht erſt ſeit dem thatſählihen Ausbruche des Krieges darum, dieſem Gedanken einen realen beſtimmten Ausdru> zu geben, daß Oeſterreichs legitime Stellung an der Donau unter allen Umſtänden gewahrt bleiben müſſe.

Bei allen dieſen Verhältniſſen richteten ſi< nebſtbei die Augen auf die Gemahlin des Geſandten. Schien es do< nun einmal beſchloſſen vom Schicfſale, daß bei der Ver- und Entwirrung des orientaliſ<hen Räthſels die Frauen eine Rolle ſpielen ſollten. Frau Jgnatieff, Lady Salisbury und die Gemahlin Midhat Paſchas ſtanden ihren Gatten auf dem ſ<lüpfrigen diplomatiſhen Parquet in mehr oder minder aus8geprägter Weiſe bei. Was Wunder alſo, wenn es Aufmerkſamkeit erregte, als Frau Prinzeſſin Marie Reuß in das deutſhe Botſchaftshotel zu Pera einzog; eine Dame, welcher eine niht gewöhnliche geiſtige Begabung und Willenskraſt nahgerühmt wurde.

Prinzeſſin Marie iſ eine dem Prinzen Reuß durchaus geiſtesverwandte Natur. Geboren am 20. Jänner 1849 als älteſte Tochter des Erbgroßherzogs Karl Alexander von Weimar mit Sofie, Prinzeſſin der Niederlande, ward ſie unter der Aufſiht ihrer fürſtlihen Eltern in der ſorgfältigſten Weiſe erzogen. Von echter Religioſität, wahrer Herzensgüte und warmer Begeiſterung für alles Gute ud Schöne, it die Prinzeſſin ausgezeihnet dur< hohe Gaben des Geiſtes und des Herzens. Treffliche Lehrer hatten ihre Talente gebildet; namentli< leiſtet ſie auf dem Gebiete der Malerei Hervorragendes, nicht minder iſt ſie empfängli< für Muſik, wie denn die Pflege der ſhönen Künſte überhaupt zu den beſonderen Vorrechten des weimariſhen Fürſtenhauſes gehört. Jhre ſeltene Lieben8würdigkeit und anmuthige Beſcheidenheit haben der Fürſtentohter überall die innigſte Sympathie erworben und die aufrihtigſten Glü>wünſche begleiteten ſie in den neuen Abſchnitt ihres Lebens.

Als ſie mit ihrem Gatten an den Altar trat, beſtand der Großherzog darauf, daß ſein Schwiegerſohn den diplomatiſchen Dienſt verlaſſe, „weil es ſi< niht ſhi>e, daß der Eidam eines regierenden deutſhen Fürſten Beamtenſold vom Reiche beziehe“. Prinzeſſin Reuß war anderer Meinung. „Es nüßt uns ni<ts, daß wir uns auf die Fußſpiten ſtellen!“ ſagte ſie, über den Souverainetäts\tolz ihres großherzoglihen Vaters lächelnd und nur mit Widerſtreben darauf verzihtend, mit flinken Händen in die Geſpinnſte der Diplomaten mit weiblihe Fäden einzuſchlagen. Prinzeſſin Marie theilt nämli< den Ehrgeiz aller Töchter des Weimarſchen Hauſes, dem bekannt-

Zimmermann, Geſh. des orient. Krieges.

li<h auch die deutſche Kaiſerin entſproſſen. Nun war ihr zu Theil geworden, was ſie wünſchte ; vielleicht hatte ſie ſelbſt ſogar niht wenig dazu beigetragen, daß der Großherzog von Weimar endlih ſein Widerſtreben fallen und den Prinzen Reuß neuerdings in den Reichsdienſt treten ließ.

Nun brauchte die Prinzeſſin Reuß wohl ni<ht mehr „auf den Fußſpißen zu ſtehen“, doh Pera war ſtets ein heikles Terrain, und zur Zeit, wo ſie ihren Einzug hielt, gli<h Conſtantinopel einem Vulkane mit glühendem Boden.

Der abſolute Mangel an Nachrichten von der aſiatiſhen Armee, der Verluſt des Panzer\chifes „Lutfi Dijelil“ in der Donau brachten die mohammedaniſhe Bevölkerung ſchon ſeit mehreren Tagen in ungeheure Aufregung. Ju ihrem Zorne erging ſie ſi< in S<hmähungen gegen den Schwager des Sultans, Mahmud Paſcha, und den Kriegsminiſter Redif Paſcha, welche für alles bereits geſhehene und noh eintretende Unglü> verantwortli<h gema<ht wurden. Man ſprah bereits von einem Miniſterwe<hſel und von einer Volksbewegung in Stambul, welche den Sturz des Miniſteriums und die Wiederberufung Midhat Paſchas für den Fall zum Zwe>e hatte, als Mehmed Ruſhdi Paſcha niht einwilligen ſollte, die Oberleitung der Geſchäfte zu übernehmen. Letterer war ſelbſt Gegenſtand einer Kundgebung. Mehrere Ulemas und andere Perſönlichkeiten begaben \i< zu ihm, um ihn zum Wiedereintritte in das öffentliche Leben zu vermögen, da ex der Einzige ſei, der unter den gegenwärtigen Verhältniſſen den Staat retten könne. Mehmed Ruſchdi ſhüßte ſein vorgerü>tes Alter und ſeine zerrüttete Gez ſundheit vor, belobte die von den Miniſtern entwi>elte Thätigkeit und rieth den Kundgebern ruhig zu bleiben und Vertrauen in die Regierung zu ſeben.

Tags darauf mate ſi<h der mohammedaniſche Deputirte Yenicheherli-Zadeh Ahmed Effendi in der öffentlihen Kammerſißung zum Echo der Mißſtimmung des Volkes. Er ſagte; „Während der Feind an unſeren Thoren ſteht, thut weder die Kammer noh die Regierung etwas und vergeuden dieſelben die Zeit mit müßigen Debatten!“ Er verlangte ferner Aufklärungen über die Armeen in Aſien und Rumänien, erklärte, daß die öffentliche Meinung mit Mukhtar Paſcha, über deſſen Schi>kſal man im Unklaren iſ, wenig zufrieden ſei, und drüte ſein Befremden darüber aus, daß die Regierung bi8her no< keinen außerordentli<hen Commiſſair nah Anatolien entſendete, der über die dortigen Vorgänge Aufklärung verſchaffen ſollte. Er für ſeinen Theil finde es merkwürdig, daß der Serasfier Redif Paſha no< immer in Conſtantinopel weile, während ſein Play an der Spive einer der beiden Armeen iſt. Yenicheherli-

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