Illustrierte Geschichte des Orientalischen Krieges von 1876-1878. : mit 318 Illustrationen, Plänen, Porträts und zwei Karten
Anzahl Damen und auch viele Herren zuließ. Nach dreiviertelſtündiger Erwartung fündigte ein mächtiges, den Pfiff der Locomotive und die Muſiken übertönendes Hurrah das langſame Heranbrauſen des kaiſerlichen Zuges an. Die Großfürſten eilten auf den Perron; Alles ſtürzte ihnen nah, alle Schranken wurden über den Hauſen geworfen, ein unermeßlihes, aus 30.000 Kehlen erſchallendes Hurrah erſchütterte die Luft. Der prächtige, rei< verzierte, aus zehn Galawagen beſtehende Zug gleitete majeſtätiſ< den Perron entlang und hielt einige Meter vor dem vorgeſchriebenen Ausſteigeplate.
Der Kaiſer, ſihtli< gerührt, verneigte ſich zu wiederholtenmalen und ſtieg langſam aus dem Wagen, um dann lebhaft und raſh ſeinem Bruder entgegenzueilen und ihn mehreremale liebevoll zu umarmen. — Der Czar ſah leidend aus und ſeine Stimme klang beklommen und bewegt. Nachdem er mehrere Soldaten freundli< auf die Schulter geſchlagen, einem Offizier die Hand gedrü>t und den Fürſten Shahowskoi umarmt hatte, wendete er ſi< gegen die decorirten Marine-Offiziere und Soldaten, ſ<üttelte ihnen die Hand und ſagte: „Schhont Euer Leben, ihr Braven, Euer Vaterland braucht ſolche Offiziere no<!“ — Dann trat er, die Thränen in den Augen, in das Empfangszimmer ein, wo ex den rumäniſchen Behörden huldvoll für den Empfang dankte, eine Deputation der in Braila anſäßigen Ruſſen empfing und ſi< wieder in ſeinen Waggon begab. Dort empfing er verſchiedene hochgeſtellte Perſönlichkeiten, unter Anderen den rumäniſchen General-Commiſſär Plagino, mehrere Generale und andere höhere Offiziere. Jn Begleitung des Kaiſers waren außer der glänzenden militäriſchen Suite, Fürſt Gortſchakoſf, die Herren von Jomini, von Stuart, und von rumäniſcher Seite C ogolniceanu und General Jwan Ghika. Jgnatieff war ſhon am 4. Juni vorausgeeilt, ſo daß die ganze diplomatiſche Action Rußlands von da an aus dem Hauptquartier ausgehen mußte. Während der kurzen Zeit, die der Czar in ſeinem Wagen zubra<hte, wollte das Hurrahſchreien fein Ende nehmen, und der Enthuſiasmus, beſonders unter den zahlreihen Bulgaren, wu<s in einer Weiſe an, daß man vor Lärm niht mehr re<t wußte, woran man war. Die Soldaten, ‘welhe an der entgegengeſeßten Seite des Geleiſes waren, drängten vor bis an den Zug und krochen unter den Waggons dur, um das Angeſicht ihres Kaiſers ſehen zu können. Es entſtand ein unbeſchreiblihes Durcheinander. Man hörte zuglei< Hurrahgeſcrei oder vielmehr Gebrüll, Muſikbanden, die zugleich verſchiedenartige Hymnen ſpielten, Commandorufe der Offiziere, Angſtrufe der Frauen und Kinder, die in dieſem Menſchenknäuel der Erdrü>ung nahe waren, und
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den Pfiff der Locomotive, der die Abfahrt des Zuges anzeigte. Endlih gelang es den MarineSoldaten, das Geleiſe zu ſäubern, und der Zug fuhr langſam ab, aber das Hurrah-Rufen der Menge folgte ihm no< mehrere hundert Meter weit nah und verpflanzte ſih bis in das ruſſiſche Lager, zwei Kilometer entlang, fort.
Der Czar ſchien hocherfreut über den Empfang, und traf am 6. Juni Abends in Plojeſti ein. Die Kriegsoperationen ‘an der Donau ſollten von nun an in ein neues Stadium treten. Nach fruchtloſer Kanonade und einigen Kämpfen mit Monitors, ſollte der eigen tlihe Feldzug im vollen Ernſte beginnen. 5
Seit Peter dem Großen war kein ruſſiſher Kaiſer Feldherr im einfahen Sinne des Wortes. Die ruſſiſchen Kaiſer waren ſämmtlih große Soldatenſreunde; ſie nahmen eifrig Theil an Paraden und Revuen, aber die Bewegungen der Heere im Kriege konnten ſie niht perſönlih leiten. Man weiß, wie viel von der Friedensliebe des Kaiſers Alexander berichtet wurde, und es ſcien wenigſtens gewiß zu ſein, daß er, zwiſchen kriegeriſ<hen und friedlihen Entſ{lüſſen hin und her ſ<wankend, ſi< für den Frieden entſchieden hätte, wenn dies mit Rückſicht auf die Ehre und Würde des ruſſiſchen Staates mögli<h geweſen wäre. Nachdem es aber den ſlaviſchen Comités gelungen war, den ſerbiſ<en Krieg anzufachen, nahdem Kaiſer Alexander dur< die Rede in Moskau ſi< perſönli engagirt hatte, war der Krieg unvermeidli< geworden. Ob die Türkei ſi< nachgiebig oder hal3ſtarrig zeigte, Rußland konnte eine hinreihende Genugthuung nur darin finden, wenn ihm eine bewaffnete Fntervention auf türkiſ<hem Gebiete geſtattet wurde. So ſtand der Czar mit ſeinem Heere wieder dort, wo wiederholt die Armeen des ruſſiſchen Reiches ſtanden, wo ſie ſi< rühmlihe Erfolge, wo ſie ſi< auch blutige Niederlagen holten. Jmmer war es der Oſten, der die ruſſiſchen Armeen anzog, immer ſchlugen ſie ihre Zelte an den Ufern des Stromes auf, welcher der einzige treue Grenzhüter der Türkei geblieben iſt. Kaiſer Alexander mußte auf ſeinen Sommeraufenthalt in Ems verzichten, mußte, ohne Rü>ſicht auf ſeine Geſundheit, in einem Klima verweilen, das ſi< niht zur Sommercur empfiehlt. So wollte es die ſlaviſ<he Miſſion, Der Empfang des Czaren in Bukareſt war ein überaus enthuſiaſtiſher, obgleih man daſelbſt aus politiſchen Motiven und auf Wunſch des Czaren ſelbſt alles feierlihe Gepränge abſihtlih vermied. Kaiſer Alexander II. war am 8. Juni in Bukareſt angekommen, Tags vorher hatte der Primar (Vürgermeiſter) dur< öffentliche Anſchläge den Bürgern der Stadt den Beſuch des hohen Gaſtes bekannt gemacht und ſie aufgefordert, ihre Häuſer mit Teppichen, Blumen und Guirlanden zu