Illustrierte Geschichte des Orientalischen Krieges von 1876-1878. : mit 318 Illustrationen, Plänen, Porträts und zwei Karten

Graf Zihy und General Jgnatieff küßten ſich gegenſeitig dreimal und we<ſelten warme Händedrücke. Vom Botſchafter Novikoff verabſchiedete ſi<h Jgnatieff blos dur< einen Händedru>, Der General ſtieg mit ſeiner Familie und dem Prinzen Tzereteleff, ſeinem Secretär, in den Salonwagen erſter Claſſe, blieb in der offenen Thüre ſtehen und converſirte in franzöſiſcher Sprahe mit den zurü>bleibenden Diplomaten. Zwei Minuten bevor der Train aus der Halle fuhr, ſtieg Graf Zi y auf die Plattform des Waggons und küßte no<hmals den General Jgnatieff. Die Coupéthüre wurde hierauf geſchloſſen und der Zug verließ die Halle.

Dies war der erſte Aufenthalt des ruſſiſchen Diplomaten in Wien.

Jn einigen Tagen darauf war Herr Jg n atieff ſhon in Petersburg eingetroffen und wurde vom Kaiſer bereits empfangen. Ebenſo hatte er wiederholt mit Fürſt Gort\<hakoff conferirt. Dieſer Lebtere war gerade nict in der roſigſten Laune. Sein Stern, der ſo Vielen ſo hell geleuctet, ſchien zu erbleichen.

Der Neſtor unter den activen Staat8männern Europas hatte ſi< wohl niht träumen laſſen, daß ihm eine Lection zu Theil werden würde, welche fein diplomatiſcher Schuljunge zu tragen vermöchte. Es war auf dem Gebiete der internationalen Höflichkeit eine ebenſo neue, als intereſſante Erſcheinung, daß die in eine directe Anfrage auslaufende Circulardepeſ<he des Miniſters eines Großſtaates von den Mächten unbeantwortet blieb, daß Alle ſih gegen Einen vereinigten, um ſeinen Ruf ohne Widerhall zu laſſen, daß ſie empfindungslos gegen die Betheuerungen ſeiner Friedensliebe die Discuſſion abbrahen und daß der in ſolcher _ Weiſe gedemüthigte Großſtaat von Neuem anklopfen mußte, um vielleiht eine Antwort zu erzwingen. Die Tinte in dem unerſchöpflichen diplomatiſchen Tintenfaße ſchien plößli<h vertro>net, das ſchreibſelige Corps vermochte feine Antwort zu finden. Man ſ<wieg in Wien, in Berlin, in London, Paris und Rom ; man \{<wieg in allen Miniſterhotels.

Und das beredte Schweigen Europas war doh der deutlihſte Beweis für das poſitive Anſuchen Rußlands. Die moraliſchen Niederlagen Rußlands bedurften keiner neuen Beleuchtung. Es hatte dur< eine zweideutige und zaghafte Politik die ſlaviſhe Bewegung vernichtet, als deren Bannerträger es fungirte, und der Türkei ganz unerwartete Vortheile verſchafft. Man hatte in Rußland die Einlöſung eines feierli< gegebenen Wortes vertagt, war na<h übermüthigen Drohungen von Zugeſtändniß zu Zugeſtändniß geſchritten und hatte einen Wankelmuth bekundet, der jeden Glauben an die ſtaatli<he Autorität untergraben mußte. Wenn Fürſt Gortſchakoff in ſeiner frivolen und oberflählihen Anſhauungs-

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weiſe der Meinung war, daß derartige Dinge der Bergeſſenheit anheimfallen könnten, ohne irgend eine Spur zurü{zulaſſen, ſo wurde er dur< den Mißerfolg ſeines Rundſchreibens jebt eines Anderen belehrt. Das Anſehen des ruſſiſchen Staates mußte wirkli< ſelbſt innerhalb der diplomatiſchen Welt auf ein Minimum reducirt worden ſein, da ſeine Circulardepeſhen keine Antwort mehr fanden. Bedenkt man, über welch außerordentlihen Einfluß Rußland no< zur Zeit des Berliner Memorandums verfügte, und brachte man die Differenz, die ſi< aus dem Vergleiche ‘ mit der nunmehrigen Stellung Rußlands ergab, in Rechnung, ſo erkannte man den ungeheueren Nactheil , den Fürſt Gortſhakoff durh ſeine Politik dem ruſſiſhen Staate zugefügt hatte.

Und es war niht zu leugnen, daß die Niederlage des Fürſten Gortſchakoff auh eine Niederlage der ruſſiſhen Friedenspartei bezeihnete. Das Gortſchakoff' ſhe Rundſchreiben war einer der lezten Verſuche, um die orientaliſche Angelegenheit im diplomatiſchen Fahrwaſſer zu erhalten. Man wollte neue Correſpondenzen anfnüpfen, neue diplomatiſhe Schritte einleiten, man wollte die Orientfrage im Schweben erhalten und einer Entſcheidung ausweichen. Dieſer Kunſtgriff war als mißlungen zu betrachten und es war mehr als wahrſheinli<, daß die ruſſiſche Kriegspartei entweder den Fürſten Gortſchakoff zwingen konnte, ſih ihrem Willen zu fügen, oder daß ſie ſi< ſelber der Staatsleitung bemächtigte. Die Zeichen von dem Rütritte Gortſhafoff's fanden daher genügende Nahrung; und General Fgnatieff ſollte ſein präſumtiver Nachfolger ſein.

Die ruſſiſhe Kriegspartei ſchien endli< die Ueberma<ht gewonnen zu haben; da überraſchte die Welt die neue Kunde, daß General Jgnatieff eine neue Miſſion erhalten habe und zu dieſem Behufe eine Rundreiſe an den Höfen Europas antreten werde.

Die Beantwortung der Circulardepeſhe des Fürſten Gortſchakoff war dur die Rundreiſe des Generals Jgnatieff beiweitem weniger dringend geworden, als ſie urſprüngli<h geweſen ſein mochte. Für Rußland, für Europa handelte es ſi jeßt mehr um die Beantwortung der Frage, mit der auf den Lippen General Jgnatieff von Hauptſtadt zu Hauptſtadt reiſen ſollte. Da derſelbe, wie es ſchien, niht geneigt war, in dieſer Jahreszeit den Canal La Manche zu paſſiren, ſo war Graf Schuwaloff beauftragt, zu ihm na< Paris herüberzukommen, um aus dem Munde des Diplomaten, der nächſt dem ruſſiſchen Reichskanzler am beſten in die Anſhauungen des Czaren eingeweiht war, das entſheidende Wort zu vernehmen. Für die Situation, für den Welttheil war es jedenfalls von Vortheil, daß volle