Geschichte der auswärtigen Politik Österreichs im 19. Jahrhundert.

C. Das Jahr der Umwälzungen. Ll

Der triviale Wahrſpruch, daß, wer nicht hören will, fühlen muß, gilt auch für die Höchſtgeſtellten im irdiſchen Leben. König Karl X. von Frankreich ſollte die Richtigkeit dieſes Sazes empfinden. Als er daran ging, den Lockungen ſeines Miniſters, des Fürſten von Polignac nachzugeben und einen Staatsſtreih gegen die ohnehin zugeſtutte politiſche Freiheit zu unternehmen, da wurde er ſelbſt von Kaiſer Nikolaus und von Metternich gewarnt. Umſonſt! Am Morgen des 26. Juli 1830 brachte das franzöſiſche Amtsblatt die berüchtigten fünf Ordonnanzen. So ſäte der von ſeiner Regierung übelberatene König Wind, um Sturm zu ernten. Der Thron der Bourbonen ſtürzte zuſammen, das Lilienbanner fiel zu Boden. Herzog Ludwig Philipp von Orleans, der Sohn des Bürgers Egalité, deſſen Daſein auf dem Schafott endete, wurde auf den Schild erhoben. Er galt als Freund des Bürgertums, als Förderer libera=ler Auffaſſungen. Sein Leben war bisher wechſelvoll genug verlaufen. Der neue König hatte in der Schweiz als Schullehrer ſein Brot verdienen müſſen und dann in Amerika und England andere Völker und Staatseinrichtungen kennen gelernt. Durch die Reſtauration gelangte er in den Beſig des großen Vermögeys ſeiner Familie, das in der Revolutionszeit beſchlagnahmt worden war. Am 9. Auguſt 1830 leiſtete Ludwig Philipp den Schwur auf die neue, verbeſſerte Verfaſſung, und damit war zur Tatſache geworden, was die konſer= vativen Ordnungshüter nur mit Schaudern zur Kenntnis nehmen fonnten: in Frankreich herrſchte ein neues Königshaus.

Zur Zeit als ſih an der Seine die Umwälzung aufregungsreich vollzog, befand ſich Metternich in ſeinem böhmiſchen Schloſſe Königswart. Ju der nächſten Nähe, in Karlsbad, weilte der ruſſiſche Staat3mann Graf Neſſelrode. Schon vor dem Ausbruche der Revolution waren die beiden Diplomaten in perſönliche Berührung getreten, wobei es Metternich nicht an heftigen Vorwürfen fehlen ließ. Sein Ärger über die ruſſiſche Politik der leßten Zeit kam zu lebhaftem Ausdru>e 1). Jett, da das große Ereignis eingetreten war, beſprachen ſih die zwei Staatsmänner abermals in Karlsbad. Man kam überein, daß man vorläufig in Frankreich die Dinge ihren Lauf nehmen laſſen müſſe, daß es alſo angemeſſen erſcheine, die weiteren Geſchehniſſe vorerſt tatenlos abzuwarten. Weniger ruhig als Neſſelrode dachte Zar Nikolaus über den Umſchwung. Er ließ es ſich angelegen ſein, in Wien und Berlin für eine militä-

1) Aus Metternichs nachgelaſſenen Papieren. 5. Band.