In jedes Menschen Gesichte steht seine Geschichte : Lehrbuch der Physiognomie : mit 140 Abbildungen
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muß jeine Waffen aus den Arjenalen der Anatomie, Anthropologie und Piychologie zufammentragen. Ohne pfychologifche Kenntnifje wird man, felbft im günftigjten Falle, taum den Durd;Ihnittscharafteren gerecht. Kompliziertere Naturen dagegen, die einer Dem Beurteiler fremden piychologijchen SKategorie angehören, werden gar nicht verjtanden und infolgedefjen grundfaljc beurteilt werden.
Ferner wird e8 angezeigt fein Lavaters Rat Folge zu leiIten, ji) eine Bilderfammlung anzulegen. %m Zeitalter der Photographie ift das leicht, umjomehr als in den Städten fait jeder zehnte Mann felbft photographieren fann. Zunädhjt Enipje man jolche, in möglichjt vielen Situationen, die uns befannt, deren Charaftereigenjchaften uns vertraut find. Dann vergleiche man die einzelnen Bhyfiognomien, die Zorn, Trauer, Erjtaunen, Stolz; ujmw. zum Ausdrud bringen, und notiere fi) den Grad der „yntenjität. Den ftärkften Ausdrucd bezeichnet man beijpielsweife mit 4, den [hmwädjlten mit 1. So wird das Auge gejhult und für die rajhen Wenderungen beim lebenden Objeft vorbereitet. Angejchautes ift das Einzige was dem Gedädhtnis wirklichen Snhalt gibt.
Ein weiteres, jehr wichtiges und hochanzufchlagendes Mittel zur Bildung des Auges ift das Zeichnen. Wer nur einige Anlagen bat, lernt das für den Phyfiognomen notwendige Zeichnen von Augen, Najen, Mund, Stimmen, Ohren ufjw. in wenigen Wodhen. Damit jegt man fi) in den Stand, Gejehenes fejtzuhalten, das dunkle Chaos menjchlicher Seelenzuftände und LeidenIhaften unauslöfhbar zu verewigen. Zeichnungen find der reinjte Quell der Erinnerungen, die dem Menjchenbeobachter die ältejten Eindrüde in urfprünglicher Kraft und Lebendigkeit ins Gedächtnis rufen. Sie bewahren ihn vor nebelhaften VBorjtellungen früherer Erlebnifje, die dunfelumrifjen in der Phantafie [hwimmen und ihließlich andere Gejtalt annehmen oder ganz verlöfchen. Der zeichnende Beobachter hat aud) vor dem PVhotographen manches voraus. Die interejjantejten, lehrreichiten Affekte find die unerwarteten. Was plöglic eintritt fann nur das Gedädtnis fajjen und der Seichenftift fejthalten,; außerdem ift es nicht immer möglid und ratfam, jedem den Ainipsfajten vor die Nafe zu bringen, wenn er im MAffekt jich befindet.