Orpheus : altgriechische Mysteriengesänge

maßen den Landessitten an — er suchte unter den heimischen Göttern ein Ebenbild, das seinem Wesen entsprach. Dies fand er in dem zweifellos schon vor Ausbreitung des eigentlichen ekstatischen Kultes in Griechenland bestehenden Dionysos. Freilich waren dessen Namen so mannigfach, wie die verschiedenen Wirkungsarten, die ihm seinem Wesen nach zukamen. Als Bakchos erregte er die Seelen seiner rasenden Schwärme, der Bakcheuten, zum Wahnsinn, ähnlich seinem Bruder auf thrakischem Boden. Aber auch er selbst entging bei der Eroberung griechischen Wesens nicht der Veränderung: aus der Erregung und höchsten Steigerung des Gefühlslebens floß die Lösung und SänftigungderinnerenSpannung, daher verehrten die Hellenen in ihm Lysios, den Erlösenden und Meilichios,den Sänftiger.

Hier war die Möglichkeit gegeben, aus dem in Bergen rasenden Wildling den Bringer der Freude zu machen, der sich in die griechische Geisteswelt einfügte und dieser zugleich ihre höchstereligiöseundkultischeSteigerungverleihensollte. Wie so oft, nahmen auch hier die Vertreter anerkannter Kulte Anlaß, das neue religiöse Element aufzusaugen und den eigenen Zwecken dienstbar zu machen. Melampus, der Seher von Pylos, hatte schon früh die urtümliche Raserei der bakchantisch Ergriffenen in religiösen Reinigungskult umzubiegen gewußt und damit eigentlich den religiösen Dionysoskult begründet. Die völlige Vereinigung vollzog sich in der Angleichung und Verschmelzung mit jenem Gotte, der als Urbild der Harmonie und der ebenmäßigen Lebensgestaltung die »edle Einfalt und stille Größe« des nach ihm benannten apollinischen Griechentumes verkörperte — mit Apollon.

In einer Höhle auf den Höhen des Parnaß feierte man das Wintersonnenwendfest jeden zweiten Jahres, das sogenannte Dreijahrsfest desDionysos. Nicht weit davon, imTale von Delphoi, hatte Apollon seinen uralten Sitz; die beiden Götter

VMm