Orpheus : altgriechische Mysteriengesänge

die Rolle des Spiegels, die den Gottessohn seiner Kräfte beraubt und ihn den finsteren Gewalten des Dunkels ausliefert. Esistdiegleicheldee,wieindertiefsinnigenSagevonNarkissos, der, als er sein irdisches Spiegelbild im Wasser betrachtet, dahinschwindet und verdorrt. Der pessimistische Grundgedanke ist der, daß der menschliche Geist, aus höheren Sphären stammend, zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden schwankend seinembesseren Selbst untreuwird und den niederen Mächten zum Opfer fällt. Ein dualistischer, »gotischer« Zug, der dem klassischen Einheitsideal eigentlich fremd ist. Hier setzen denn auch die Erlösungsbestrebungen der Mysterien ein: Zurückgewinnung derdionysischenEinheit ausderZerspaltenheitdes Titanischen, Erleuchtung, Reinigung und Vollendung durch dieWeihen des Orpheus. DasSakrale, die Erhöhung des Menschen durch ein außer ihm wirkendes, von außen an ihn herantretendes Heilsmittel, tritt neben den selbständigen Geist der Philosophie. Noch nahmen nicht, wie zu anderen Zeiten, die beiden Rivalen eine grundsätzliche Kampfstellung ein; die Theologie dachte nicht daran, ihre stolze Schwester zu ihrer Magd zu erniedrigen, und auch diese verschmähte es, wie Plato zeigt, nicht, die Bilder und Vorstellungen jener zu ihren eigenen Zwecken zu entlehnen. War doch der Geist der Philosophie auchindenreligiösenMythendeshochbegabtenVolkes lebendig.

Die Art des Kultes in den orphischen Vereinigungen ist nur noch in schwachen Andeutungen zu erkennen. Wir besitzen aus dem Athen der römischen Kaiserzeit die Satzungen eines »Thiasos«, eines orphischenVereins der sog. lobakchen, in dem angesehene und reiche Bürger der verarmten Stadt die Rolle des Gönners und Förderers spielten. Aus diesem sind jedoch mehr technische und organisatorische Einzelheiten zu erkennen.Ein Grundgedanke der Mysterienfeiern war wohl der, daß man sich versammelte, um den Gott oder mehrere Götter als

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