Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/1
94 Erſte Ordnung: Affen; erſle Familie: Shmalnaſen (Menſchenaffen).
Dank den trefflichen Forſhungen Wallaces ſind wix über das Freileben des OrangUtans genauer unterrichtet als über das jedes anderen Menſchenaffen. Der genannte Reiſende hatte die beſte Gelegenheit, das Tier kennen zu lernen und die Berichte der Eingeborenen mit ſeinen eigenen Beobachtungen zu vergleichen. Zur Ehre ſeiner Vorgänger, von denen mehrere, namentli<h Dwen, Keſſel und Brooke, bemüht waren, ihre Schilderungen von Fabeln und Frrtümern zu reinigen, muß ih ſagen, daß unſer Gewährsmann, obgleich er nur eigene Beobachtungen wiedergibt, die Angaben jener in allem Weſentlichen beſtätigt.
„Man weiß“, ſagt er, „daß der Drang-Utan Sumatra und Borneo bewohnt, und hat guten Grund, zu glauben, daß er auf dieſe beiden großen Fnſeln beſchränkt iſt. Jedoch ſcheint er auf der erſteren viel ſeltener zu ſein als auf der letzteren. Hier hat er cine weite Verbreitung. Er bewohnt ausgedehnte Gegenden der Südweſt-, Südoſt-, Nordoſt- und Nordweſtküſten, hält ſih aber aus\<ließli<h in niedrig gelegenen und ſumpfigen Wäldern auf. Zn Sadong findet man ihn bloß in flachen, waſſerreichen, mit hohem Urwalde bede>ten Gegenden. Über die Sümpfe erheben ſich viele vereinzelt ſtehende Berge, welche zum Teile von Dajaken bewohnt werden und mit Fruchtbäumen bebaut worden ſind. Sie bilden für den Meias einen Anziehungspunkt; denn er beſucht ſie ihrer Früchte halber, obwohl er ſi des Nachts ſtets in den Sumpfwald zurücßzieht. Fn allen Gegenden, wo der Boden ſi etwas erhebt und tro>en iſt, wohnt der ODrang-Utan niht. So kommt ex beiſpielsweiſe in den tieferen Thälern des Sadonggebietes häufig vor, fehlt dagegen jenſeits der Grenze, innerhalb welcher Ebbe und Flut bemerkbar ſind. Der untere Teil des Sarawakthales nun iſt ſumpfig, jedo<h nicht überall mit hohem Walde bede>t, ſondern meiſt von der Ripapalme beſtanden, und nahe der Stadt Sarawak wird das Land tro>en und hügelig und iſt in Beſiß genommen von kleinen Stre>en Urwald mit Dſchangeln. Eine große Fläche ununterbrochenen und glei<hmäßig hohen Urwaldes iſt für das Wohlbefinden unſeres Affen Bedingung. Solche Wälder bilden für ihn ein offenes Land, in welchem er ſih nach jeder Richtung hin bewegen kann, mit derſelben Leichtigkeit, wie der Fndianer durch die Steppe und der Araber dur die Wüſte zieht. Er geht von einem Baumwipfel zum anderen, ohne jemals auf den Boden hinabzuſteigen. Die hohen und tro>enen Gegenden, welche mehr durch Lichtungen und ſpäter auf dieſen wachſende, niedere Dſchangeln bede>t ſind, eignen ſi< wohl für Menſchen, nicht aber für die eigentümliche Art der Bewegung unſeres Tieres, welches hier auh vielen Gefahren ausgeſeßt ſein würde. Wahrſcheinlich finden ſih außerdem in ſeinem Gebiete auh Früchte in größerer Mannigfaltigkeit, “indem die kleinen inſelartigen Berge als Gärten oder Anpflanzungen dienen, ſo daß inmitten der ſumpfigen Ebene die Bäume des Hochlandes gedeihen können.
„Es iſt ein ſeltſamer und feſſelnder Anbli>, einen Meias gemächlich ſeinen Weg dur den Wald nehmen zu ſehen. Er geht umſichtig einen der größeren Äſte entlang in halb aufre<hter Stellung, zu welcher ihn die bedeutende Länge ſeiner Arme und die verhältnismäßige Kürze ſeiner Beine nötigen, und zwar bewegt er ſih wie ſeine Verwandten, indem er auf den Knöcheln, niht wie wir auf den Sohlen geht. Stets ſcheint er ſolche Bäume zu wählen, deren Äſte mit denen des nächſtſtehenden verflochten ſind, ſtre>t, wenn er nahe iſt, ſeine langen Arme aus, faßt die betreffenden Zweige mit beiden Händen, ſcheint ihre Stärke zu prüfen und ſchwingt ſih dann bedächtig hinüber auf den nächſten Aſt, auf welchem er wie vorher weiter geht. Nie hüpft oder ſpringt er, niemals ſcheint er auch nur zu eilen, und doh kommt er faſt ebenſo ſchnell fort, wie jemand unter ihm dur< den Wald laufen kann.“ — An einer anderen Stelle meint Wallace, daß er im Laufe einer Stunde bequem eine Entfernung von 5—6 engliſhen Meilen zurü>legen könne. „Die langen mähtigen Arme ſind für ihn von größtem Nuzen; ſie befähigen ihn, mit Leichtigkeit die höchſten Bäume