Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/2
650 Achte Ordnung: Zahnarme; erſte Familie: Faultiere.
ſchien. Aber man bemerfte bald, daß die Ergreifung leichter ward als die wirklihe Gefangennahme. Es ſchien unmöglich, das Tier vom Geäſte zu trennen, an welchem es ſi mit einer Kralle feſtgeklammert hatte. Erſt nachdem man die beiden Vorderfüße, ſeine einzige, aber wegen der ſcharf hervorſtehenden Klauen niht ungefährliche Verteidigungswaffe, gebunden hatte, gelang es drei Fndianern, unter Aufbietung aller Kräſte, es von dem Baume loszureißen. Beim Stlafen und Ruhen nimmt das Faultier eine ähnlihe Stellung an wie gewöhnlih. Es ſtellt die vier Beine dicht aneinander, beugt den Leib faſt kugelförmig zuſammen und ſenkt den Kopf gegen die Bruſt, ohne ihn jedo< darauf ruhen zu laſſen oder ihn darauf zu ſtügen. Jn dieſer Lage hängt es am Tage genau auf derſelben Stelle, ohne zu ermüden. Nur ausnahmsweiſe ſu<ht es mit den Vorderarmen einen höheren Zweig zu faſſen, hebt den Körper dadur< vorn empor und ſtügt vielleicht ſeinen Rüen auf einen anderen Aſt. So unempfindlih das Tier gegen Hunger und Durſt zu ſein ſcheint, ſo empfindlich zeigt es ſih gegen die Näſſe und die damit verbundene Kühle. Bei dem ſhwächſten Regen ſucht es ſich ſo eilig wie möglih unter die dichteſte Bedachung der Blätter zu flüchten und macht dann fogar verzweifelte Anſtrengungen, ſeinen Namen zu widerlegen. Jn der Regenzeit hängt es oft tagelang traurig und kläglich an einer und derſelben Stelle, ſicherlih im höchſten Grade dur das herabſtrömende Waſſer beläſtigt.
Nur höchſt ſelten, gewöhnlih bloß des Abends oder bei anbre<hendem Morgen, oder au, wenn ſi das Faultier beunruhigt fühlt, vernimmt man ſeine Stimme. Sie iſt niht laut und beſteht aus einem kläglichen, lang ausgehaltenen, feinen, kurzen und ſ{neidenden Tone, welcher von einigen mit einer oftmaligen Wiederholung des Lautes i“ wiedergegeben wird. Die neueren Beobachter haben niemals von einem Faultiere Töne vernommen, welche Doppellauten gleichen, oder gar, wie frühere Beobachter ebenfalls behaupten, aus einem auf: und abſteigenden Akforde beſtehen. Bei Tage hört man von dem Faultiere höhſtens tiefe Seufzer; auf dem Boden ſchreit es niht, ſelbſt wenn es gereizt wird.
Aus dem bereits Mitgeteilten geht hervor, daß die Sinne der Faultiere nur ſehr gering entwid>elt ſein können. Sie ſcheinen vielmehr gleihmäßig ſtumpf zu ſein. Das Auge iſt blöde und ausdru>slos wie kein zweites Säugetierauge; daß das Gehör niht ausgezeihnet iſt, ergibt ſich ſhon aus der geringen Größe und verſte>ten Lage der Ohrmuſcheln; von der Stumpfheit des Gefühls hat man ſi< mehr als einmal überzeugen können; über den Geruh haben wir kein Urteil, und nur der Geſhmad> dürfte als einigermaßen entwid>elt gelten. Sehr tief ſtehen die geiſtigen Fähigkeiten der Faultiere. Sie zeigen wenig Verſtand, vielmehr Stumpfheit, Dummheit und Gleichgültigkeit. Man nennt ſie harmlos, will damit aber ausdrü>en, daß ſie überhaupt geiſtiger Regungen nicht fähig ſind. Sie haben, ſo ſagen die Reiſenden, keine heftigen Leidenſchaften, kennen keine Furcht, beſißen aber auh keinen Mut, ſcheinen keine Freude zu haben, aber auch der Traurigkeit unzugänglich zu ſein. Dieſe Angaben ſind nah meinen Erfahrungen niht begründet. So tief, wie die meiſten Beobachter glauben machen wollen, ſtehen die Tiere niht. Man pflegt zu vergeſſen, daß man in ihnen Nachttiere vor ſi hat, über deren Fähigkeiten Beobachtung in den Tagesſtunden kein Urteil gewähren kann. Das ſchlafende Faultier iſt es, welchem ſein Name gebührt; das wah und rege gewordene bewegt ſi<h in einem engen Kreiſe, beherrſcht dieſen aber genügend. Sein wenig entwi>eltes Gehirn bietet einem umfaſſenden Verſtande oder weitgehenden Gedanken und Gefühlen keine Unterlage; daß ihm aber Verſtändnis für ſeine Umgebung und die herrſchenden Verhältniſſe abgehe, daß es weder Liebe noh Haß bekunde, weder Freundſchaft gegen ſeinesgleihen no< Feindſchaft gegen andere Tiere zeige, daß es unfähig wäre, in veränderte Umſtände ſih zu fügen, wie man behauptet hat, iſt falſch.
Die Faultiere werfen nur ein einziges Junges. Vollkommen behaart, ja ſogar mit bereits ziemli< entwidelten Krallen und Zehen kommt dieſes zur Welt und klammert ſi