Giorgiones Geheimnis : ein kunstgeschichtlicher Beitrag zur Mystik der Renaissance

Wir blicken zurück. Einige Bilder und Stiche, deren Stoflgebiet im ganzen keinen Zweifel ließ, rückten nun enger an das Wiener Hauptwerk und damit an Giorgione selbst heran. Eine neue Welt geistiger Beziehungen und Überlieferungen, aus denen der Meister seiner Kunst und wohl auch seinem Leben Inhalt gab, schien sich aufzutun. Es liegt nun nahe genug zu fragen, ob sich von hier aus auch gewisse andere Rätsel lösen, die Giorgiones Schaffen von jeher den Kunstfreunden aufgegeben hat. Haben wir einen Zauberschlüssel zu all diesen Geheimnissen gefunden ?

Die Antwort ist: ja und nein. Gewiß kommen wir manchem näher als bisher und wir glauben, mindestens die Richtung zu erkennen, wo die Lösung gesucht werden müßte. Bei anderem bleibt sogar die Richtung zweifelhaft. Spricht dies gegen die Fruchtbarkeit unserer Hypothese? Einen Universalschlüssel bieten wir nicht an und der mißversteht das Vielfältige, Widerspruchsvolle, die verschiedenen Ebenen in des Künstlers Wesen, welcher meint, all sein Trachtenund T'unleictlich aufein eFormelbringenzukönnen.

‘Wir haben schon darauf aufmerksam gemacht, daß in dem gesicherten Umkreis des Giorgioneschen Gestaltens das christliche Motiv und vor allem das eigentliche Kirchenbild, ja auch das neue Testament als Stofikreis überhaupt zurücktritt. Bei der Madonna von Castelfranco hat die Heimat ihrem berühmten Sohne den Auftrag gegeben. Sonst aber hat sich die Kirche, sehr im Unterschied noch zu seinem Lehrer Bellini, anscheinend wenig um den Maler bemüht und er selbst auch dem eigentlihen Andadhtsbilde geringe Teilnahme entgegengebract. Weltlichkeit allein, eine gewisse religiöse Indifferenz braucht in romanisch katholishen Gegenden, noch dazu in der Renaissanceperiode nicht der Anlaß zu sein— man denke an Tizian, an Palma gar. Der Grund könnte tiefer gelegen haben. Wir haben ja verstehen gelernt, daß das „Heidentum” gewisser Renaissancezirkel auc seine positivreligiöse Seite entfaltete, und wir haben gewisse Hinweise auf Giorgiones Beteilisung an solchen „Mysterien” mit all ihrem romantisch ästhetischen Reiz schon aufgespürt. Vielleicht liegtin dem Verhalten Giorgiones und der Kirche in Bezug auf das Andactsbild nur eine Bestätigung für alles das. Daß er dagegen gewisse jüdisch alttestamentliche Vorstellungen geliebt zu haben

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