Giorgiones Geheimnis : ein kunstgeschichtlicher Beitrag zur Mystik der Renaissance

Autorschaft Giorgiones umstritten, wenn auch das Thema in seiner Kühnheit und Eigenart wiederum zu allererst an Giorgione denken läßt. Keineswesgs ist damit gesagt, daß sich eine mythologische Deutung in den zweifelhaften Fällen überall verbietet. Die Cassonebildchen freilich, deren Giorgione für das Studiolo reicher Liebhaber viele hergestellt hat, bringen mehr die üblichen mythologischen Vorwürfe, sie setzen keine Aufgaben aus lateinischen Autoren voraus. Es scheint uns aber sehr einleuchtend, daß der hochgebildete Künstler jene Stelle aus Ciceros,de divinitate” und bei Hyginus gelesen hat, die sich auf die Findung des Paris bezogen — hat ihn doch das Paristhema noch in anderen kleinen Gemäldefolgen beschäftigt. Der Stich, in dem uns die Komposition erhalten ist, zusammen mit dem Budapester Fragment, zeigt die Handlung völlig deutlich und straft diejenigen Lügen, welche es unserm Meister zutrauen, derartige Textstellen bis zur Unkenntlichkeit variiert zu haben. Die beiden wunderbaren Gestalten zur Linken, der Greis mit der Hirtenflöte und das nakte Mädchen sind ein merkwürdiger Beitrag für die fast mythenbildende Kraft des Meisters, der kaum von Personifikationen im Sinne des Altertums gewußt haben mag. Liegt hier doch eine besondere allegorisch-mystische Auslegung des Themas vor, die wir nicht verstehen? Jedenfalls haben die Zutaten den Sinn der Handlung nicht aufgehoben. So hat denn auch Michiel dieses Gemälde, welches er neben den „Drei Philosophen” und der „Höllenfahrt des Äneas” 1525 bei Contarini sah, völlig richtig bezeichnet. Wie er aber bei den „Drei Philosophen” kein Wort von Äneas verlauten läßt, so hat er auch 1530 das kleine Gemälde bei Gabriel Vendramin, welches heute meist „der Sturm” oder die,Familie desGiorgione” genannt wird, keineswegs mit Adrastus und Hypsipyle in Verbindung gebracht, wie_es-heute-Wickhoff-auf-Grund-einer- Stelle bei Statius- versucht hat.-Vielmehr spricht er nur von einer „tempesta cun la cingana et soldato” (Zigeunerin und Soldat). Man hatte ihm also offenbar auf dienaheliegende, ja eigentlich unvermeidliche Frage, wer denn der Soldat und die halbnackte Frau mit dem Kinde im Gewitter sei, keine mythologische Erklärung zu geben gewußt — obgleich sich die Deutung auf Adrast und Hypsipyle doch leicht dem Gedächtnis eingeprägt haben müßte. Was nun

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