Giorgiones Geheimnis : ein kunstgeschichtlicher Beitrag zur Mystik der Renaissance

den tatsächlichen Hergang der Geschichte bei Statius angeht, so steht er gewiß nicht in so grobem Widerspruch zum Gemälde, wie etwa die „Drei Philosophen” zu der von Wickhoff angegebenen Virsilstelle. Die schwach bekleidete Frau mit Kind wäre zur Not als Hypsipyle, die sich als Amme verkleidet hat, zu deuten, aber ist der ruhig wachehaltende Jüngling wirklich ein König, wirklich Adrast, der die ersehnte vom Dursttod rettende Quelle durch Hypsipyle findet ?\Setzt man wirklich ein so freies Verhältnis zwischen literarischer Vorlage und künstlerischer Gestaltung voraus, so wäre es nicht schwer, wie Justi sagt, selbst in der chinesischen Literatur entsprechende Textstellen herauszuspüren. Schreys Deutung auf „Deukalion und 1 Pyrrha”, die auch ‚Ridolfi für eine Cassone-Serie erwähnt, hat darum mindestens so viel für Bar wie die immerhin schwer zu verwirklihende Auslesung Wi&hofls. Haben wir aber von der besonderen Einstellung her, die wir zu Giorgione gewannen, eine neue überzeugendere Lösung anzubieten? Was wir versuchen werden, istganz hypothetisch. Immerhin ist esnicht ausgeschlossen, daß eine spätere genauere Erkundung der inneren Gebrauchtümer und der lesendarischen Überlieferungen gewisser Zirkel der Renaissance doh noch in unsere Richtung führen wird.

In einem allgemeinen Aufruhr aller Elemente hat ein junges Weib mit ihrem Säugling unter einem Busche Schutz gesucht; sie ist fast nackt. Vorn links auf der anderen Bildseite steht ein Jüngling mit langem Stabe und hält Wache. Auf jeden Fall ist es das standhafte ruhige Verweilen und Wachen des Jünglings und die Dürftigkeit, Hilfsbedürftigkeit des Weibes gegenüber dem Unwetter, was den unvoreingenommenen Beschauer als besonders charakteristisch an der Darstellung anspricht. Befinden sich sonst im Bilde keinerlei Zeichen und Anspielungen? Es fällt auf, daß in einer durchaus der venetianischen terra ferma entnommenen Naturszenerie — befestigte, mittelalterliche Landstadt am Fluß mit Brücke — weiter im Vordergrunde zwei ganz vereinzelte antikische Baufragmente stehen: eine Art Loggia ganz links und zweiisolierte Säulenstümpfe auf einem scharf von einer Richtung her (Osten ?)beleuchteten Postament. Vor diesem PostamentmitseinerSchwelle steht der bekleidete, gleichfalls (östlich?) beleuchtete Jüngling wie ein Hüter.

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