Giorgiones Geheimnis : ein kunstgeschichtlicher Beitrag zur Mystik der Renaissance

V.

ll Wer war es, für den Giorgione seine Träume erzählte und ( malte und wo er „Deutung” und Verständnis suchen durfte? ui o Immer wieder führt uns die Absicht, in die Hintergründe von Giorgiones Innenwelt einzudringen, zugleich auch hinaus in seine psychische Umwelt: eine geschlossene, vielleicht bis zu einem gewissen Grade „geheime” Geistesgemeinschaft Gleichgesinnter, Mittelstufe zwischen den sog. chymischen Gesellschaften und den wissenschaftlich-künstlerischen Akademien mit ihrem kultischen und geselligen Einschlag. An solche Gemeinschaft mag er sich ähnlich wie Dürer in seiner „Melancholie” mit seinen dem Außenstehenden schwer verständlichen Offenbarungen zunächst gewandt haben, und es ist im Venedig der Hochrenaissance selbstverständlich, daß diese Gemeinschaft zugleich einen Bund wahrhaft kunstverständiger Menschen darstellte. Es liegt nahe, zu untersuchen, ob die berühmten Bildnisse, die Giorgione zugeschrieben werden, diese unsere grundlegende Vermutung unterstützen. Ein bloße psychologishe Ausdeutung der einzelnen Persönlichkeiten würde da freilih in das Reich des Unbeweisbaren führen, aber es finden sich Merkmale viel greifbarerer Art, die uns unmittelbar und höchst überraschend wieder in unsern Zusammenhang hineinführen. Dem Kenner des Giorgioneshen Gesamtwerkes ist bekannt, daß einige Porträts des engsten Giorgionekreises am untern Rande gewisse Zeichen tragen, die bisher niemals befriedigend gedeutet worden sind. Leider sind diese Zeihen in den meisten Fällen übermalt und im Sinne einer willkürlichen Auslegung ergänzt. Sostehen wir auch hier auf unsiherem Boden und können bestenfalls nur wahrscheinlich machen, in welcher Rich-

tung die Auflösung der ursprünglichen Zeichen gesucht werden müßte.

Im Berliner Kaiser-Friedrich-Museum trägt das berühmte kleine Bildnis eines jungen Mannes an der (ob mit Absicht einmal gestuften?) Brüstung das Zeihen V V. Da dieses Porträt bis jetzt von allen Kennern mit Ausnahme Wicdkhofls — als Giorgione bezeichnet worden ist und da auch die genannte Signatur in ihrer Echtheit unbezweifelt blieb, bietet das Faktum für uns einen brauchbaren Ausgangspunkt. Auf dem Brustbild

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