Giorgiones Geheimnis : ein kunstgeschichtlicher Beitrag zur Mystik der Renaissance

vor allem in der Bauhütten- und Zunfttradition, der sich die hermetishen und astrologischen Lehrbilder einordnen, und die noh heute lebendig ist. Nicht jeder wurde diese alten Lehrbilder zu lesen, und wohl nur Auserwählte verstanden die neuerkannte Beziehung aller dieser Zeichen zur saturnischen Melancholie und daß sie in ihrer moralishen Anwendung das Saturnkind zum Empfang der höheren Gaben des Planeten bereiten. Insoferne darf schon, wenn auc mit anderer Begründung als bei Giehlow, an einen eingeweihten Kreis, eine - sicıtbare oder unsichtbare? - Gemeinschaft der Wissenden gedacht werden, an die sih Dürer mit seinem Kunstwerk wandte, ähnlich wie Giorgione mit seinen „Drei Philosophen” eine soldıe Gemeinschaft voraussetzte. „Sodalitäten” nach Art der Akademie des Laetus und des Ficinus hatte ja Konrad Celtes seit seiner feierlihen Dichterkrönung aller Orten, u. a. auch in der Umgebung des Kaiserhofes, ins Leben gerufen; und es ist eigentlidı sehr wahrsceinlicdı, daß auh der Humanist Dürer einer solhen angehörte. —

Pirkheimers Rolle als Inspirator Dürers bleibt unangefochten. Sollte aber nicht Dürer in Venedig, wo er vielleicht die „Drei Philosophen” entstehen sah und wo die neuen Lehren so sichtbarlich umgingen, noch direkte Anregungen erhalten haben?

Eine offene Frage, die au Panofsky-Saxl nicht beantwortet, bleibt die Bezeichnung Melencholial. Wer diese Bezeichnung unbefangen liest, muß den Gedanken, als habe D. eine Temperamentenfolge geplant, unbegründet finden. Erstens hätte Dürer dann Melandıolicus statt Melancholia geschrieben, da solheSubstantive für die anderen drei Komplexionen fehlen. Zweitens hätte es näher gelegen, dann das Iyor das Wort Melendolia zu setzen. Sinngemäß muß man annehmen, daß nodı ein Blatt, vielleiht nod ein drittes ,„ als Melencolia II (und IT) folgen sollte. Wie wir auch im Text ausführen, birgt der neue, vor allem von Ficin vertretene Begriff der saturnischen Melancholie gewisse Entwiklun gsmöglihkeiten in sih, die das Saturnkind in den Stand setzen, durch Meditation und Konzentration die niederen Wirkungen des Gestirns zu überwinden. Für den, dem dies gelingt, winkthohe Weisheit und Urteil. Nur ein Saturnkind kann dies hohe Ziel erreihen — wenn esjene in vollem Sinne saturnischen inneren und äußeren Arbeiten verrichtet hat. So sagt audı Melanchthon: Sola igitur atra bilis illa,quem diximus naturalem, ad judicium nos etsapientiam conducit”. „Neque enim semper!” - fügterbedeutsam hinzu. Sollte also Dürer geplanthaben - vielleichtinbedeutsamer Parallele zu der Stufenfolge der „Drei Philosophen” Giorgiones, von denen der studiosus einsuchendes, der senex ein die Weisheit f indendes Saturnkind ist- den inneren Aufstieg des Saturniers im Sinne der geheimen Weisheitslehre bestimmter Zirkel zu schildern? Die Komposition des Dürershen Stiches betont gerade — und nicht nur im Ausdruck der Frauengestalt selber — das Unerlöste, Ungeordnete der hart sich im Raume stoßenden Sachen. Alles ruft hier nah Anwendung, Klärung und Gestaltung, alles ist Aufgabe, und noch in quälender Unregelmäßigkeit liegt

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