Illustrierte Geschichte des Orientalischen Krieges von 1876-1878. : mit 318 Illustrationen, Plänen, Porträts und zwei Karten

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leßte Verſuch, um einen europäiſchen Krieg zu vermeiden. Rußland hatte zwar wiederholt ſeine Abneigung gegen einen „Congreß" oder eine „Conferenz“ — der Name that nihts zur Sahe — fkundgegeben, aber man hoffte, daß, wenn alle übrigen Mächte die Einladung Andra y's annehmen würden, man in Petersburg kaum ablehnen hätte können.

Allein die Congreß- oder Conferenz-FFdee war faum in's Leben getreten, als ih ſhon auh der Widerſacher anmeldete. Zur beſſeren Beleuchtung des in der Drei-Kaiſer-Allianz waltenden glüclihen Verhältniſſes wurde das der FJunitiative des Grafen Andraſſy entſtammende Project von Berlin aus einer ſcharfen, erbarmungsloſen Kritik unterzogen und als gänzli<h unbrauchbar hingeſtellt.

Endlich hatten aber doh alle Mächte der abzuhaltenden Conferenz beigeſtimmt, blos wegen des Ortes, wo dieſelbe abgehalten werden ſollte, beſtanden no< Differenzen. Das Petersburger Cabinet beſchränkte ſi< darauf, ſeine Anſicht auszudrücen, daß die Hauptſtädte hiervon ausge-

\<loſſen ſein ſollten. Die Beſtimmung des Ortes ſelbſt wurde ODeſterreich-Ungarn

anheimgeſtellt und wurde von Wien aus Bad enBaden in Antrag gebracht.

Die orientaliſhe Frage ſchien mithin den Händen der Kriegführenden entriſſen worden zu ſein und ſollte nunmehr auf Baſis einer europäiſchen Vereinbarung geregelt werden. Es hatte ſomit eine für den Moment erfolgreihe Fntervention der Neutralen plaßbgegriffen und das urſprüngliche Programm Rußlands, daß das Recht des Siegers durch keine fremde Einmiſchung getrübt werden dürfe, war ſomit vollſtändig umgeſtoßen. Man durfte überzeugt ſein, daß Rußland nur mit dem tieſſten Groll im Herzen auf die diplomatiſche Action Europa's eingegangen ſei. Fürſt Gortſchakoff befand ſi< ſo wohl wie der Fuchs im Tellereiſen; es war zu vermuthen, daß er weder Mittel no< Opfer ſcheuen werde, um ſi<, wenn es mögli<, aus ſeiner Zwangslage zu befreien.

Wie es ihm gelungen, das ſollte eine nahe Zeit lehren, und dieſe brachte eine ſenſationelle Ueberraſhung in einem ruſſiſ<-türkiſchen Schuß- und Trußhbündniß.

Ein guter Theil des Jutereſſes, welhes man an den ſeltſamen Vorgängen der WaffenſtillſtandsÜnterhandlungen nahm, concentrirte fi< mittlerweile auf die Frage der Exiſtenz des geheimen Separat-Vertrages, welher zwiſhen den biSherigen friegführenden Mächten neben den Friedens-Präliminarien und dem Wa ffenſtillſtande abgeſchloſſen worden ſein ſollte. Es war feine geringe Anzahl von Symptomen, welche für die Richtigkeit der namentli<h in diplomatiſhen Kreiſen ſtarken Cours habenden

Vermuthung ſpra<h, daß in der That ein geheimes ruſſiſ< -türkiſhes SeparatAbkommen beſtände. Jedenfalls ſprachen die Thatſachen laut genug, um mindeſtens an einem ruſſiſh-türkiſhen Einverſtändniß keinen Augenbli> länger zweifeln zu dürfen. Fn Conſtantinopel, Adrianopel, an der Donau, kurz überall, wo Türken und Ruſſen offiziell zuſammenkamen, wickelte ſi< Alles nach augenſcheinli<h exiſtirenden beſonderen Vereinbarungen ab. Die Donaufeſtungen, welche innerhalb einiger Tage in ruſſiſchen Händen ſein ſollten, waren no< am 10. Februar von den Türken niht geräumt. Auch waren außer Sulina, welches weder von Ruſſen no< Türken beſet war und von einer neutralen Macht, wie es hieß, beſeßt werden ſollte, no<h manche Stellungen an der Donau von den Türken occupirt. Es waren dies Einzelheiten, wel<he in's Auge gefaßt zu werden verdienten und unbeſtreitbar mit dem neuen Verhältniſſe im Zuſammenhange ſtanden, in welches die Pforte zu Rußland getreten war. Dem entſprehend war au< die ruſſenfreundlihe Stimmung in türkiſchen Kreiſen im Wachſen begriffen und dürfte hierfür als claſſiſhes Zeugniß eine Beſprechung angerufen werden, wel<he Server Paſcha, der erſte Unterhändler von Kaſaulik, mit einer in Pfortenkreiſen hoh angeſehenen Perſönlichkeit, dem griechiſchen Bankier Zarifi, der Egeria. (geſetzgebenden Nymphe) der Pforte in Finanz-Angelegenheiten, in den leßten Tagen gehabt hatte.

Zarifi drüc>te nämli<h dem türkiſchen Miniſter gegenüber ſeine Verwunderung über den Umſchwung aus, welcher in der türkiſchen Politik eingetreten war, worauf Server Paſcha ſih beiläufig in folgender Weiſe vernehmen ließ: „Was wollen Sie? Europa hat uns verlaſſen, nachdem es uns direct und indirect zum Widerſtande gegen Rußland aufgemuntert hat. Wenn wir das ſpätere Verhalten Europa’s vermuthet hätten, würden wir die Bedingungen der Londoner Conferenz angenommen haben. Jett erübrigt uns ni<hts Anderes, als uns in die Arme Rußlands zu werfen. Dadur<h erreichen wir vielleiht no< ſo Manches. Tritt dadur< eine europäiſche Verwicklung ein, deſto beſſer! Wir haben nichts zu verlieren, und man würde ſi< nur um unſere Theilung ſtreiten. Wenn man aber, was wahrſcheinlicher iſt, Rußland gewähren läßt, dann iſt es unſer wohlverſtandenes Futereſſe, uns an dasſelbe anzulehnen. Rußland hat uns in Europa noh nöthig.

Es wird eine ſ{<hwache europäiſche Türkei am Bosporus einer von ganz Europa garantirten neuen Staatsbildung vorziehen. Unſere Exiſtenz war bis jezt eine europäiſche Nothwendigkeit, heute iſt ſie eine ruſſiſche geworden.“ 121*