Illustrierte Geschichte des Orientalischen Krieges von 1876-1878. : mit 318 Illustrationen, Plänen, Porträts und zwei Karten

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Server Paſcha fuhr fort, in klarer Weiſe ſeinem Partner den Umſchwung der türkiſchen Politik zu erklären, und endigte die Unterredung mit folgenden hohbedeutſamen Worten: „Der Schwerpunkt der türkiſhen Macht iſt von jeßt an nach Aſien verlegt. Man hat den Sultan niht als europäiſhen Souverän fortbeſtehen laſſen wollen; er wird als aſiatiſcher Herrſcher und namentli< als Khalif über hundert Millionen Aſiaten herrſchen. Als aſiatiſhe Macht kann ſih die Türkei keinen beſſeren Alliirten wünſchen als Rußland, und als ſolhe Malt hat ſie keinen größeren Gegner als England, bei welchem es in Vergeſſenheit gerathen iſ, daß es ‘ſih durch die Erhaltung der Türkei ſelbſt erhalten hätte. Jn Europa brau<hten wix England, in Aſien braucht England uns. Der Sultan iſt das religiöſe Oberhaupt des größten Theiles des indo-engliſhen Reiches, Von jéßt an ſtehen ſih die Empress of India (Kaiſerin von Jndien) und der Chef des Jslams gegenüber.“

Dieſe Converſation ſpiegelte getreu die Situation in Conſtantinopel wider. So dachte man in maßgeblichen türfiſhen Kreiſen und war daſelbſt vom Gedanken zur That übergegangen, indem man in ein überaus enges Einvernehmen mit Rußland getreten war.

Man wußte nun allerorts ganz genau, daß am 2. Februar in Adrianopel ein Schub- und Trußbündniß zwiſ<hen dem Czaren und

dem Sultan abgeſchloſſen worden. Das Document war ruſſiſcherſeits vom Staatsrath Nelidoff, türkiſcherſeits von Server Paſcha gezeihnet. Es enthielt nur drei Artikel. Fn dem einen wurden die Gebietsabtretungen präciſirt, welhe der Sultan, um ſeinem Alliirxten einen Beweis ſeiner freundſchaftlihen Geſinnungen zu geben, an Serbien, Montenegro und eventuell an Rumänien zu machen bereit war. Jn dem zweiten Artikel übernahm der Czar in feierlihſter Weiſe die Verpflichtung, alle Beſißungen des Sultans, wo immer ſie ſi< befinden mögen, gegen welhen Feind immer mit allen Mitteln und au< mit den Waffen in der Hand zu beſhüßen, und wurde die formelle Garantie für den Beſibßſtand der Türkei von Seite Rußlands übernommen. Fn dem dritten und Schlußartikel verbündeten ſih beide Mächte zu gegenſeitiger Abwehr, ſo daß, wenn die Pforte von irgend welcher Macht angegriffen werden ſollte, Rußland zur Hilfeleiſtung verpflichtet iſ, und daß, wenn irgend wel<he Macht an Rußland den Krieg erflären ſollte, der Sultan verpflichtet war, ſeine Macht mit jener Rußlands zu vereinigen, um den Angriff abzuwehren. Dies galt ſelbſtverſtändlih au< für den gegenwärtigen Fall, wo ruſſiſche Streitkräfte auf türkiſhem Boden ſtanden und dieſe von irgend einer Macht bedroht oder förmlih angegriffen werden konnten.

Die Engländer in deu Dardanellen und die Ruſſen vor Conſtantkinopel.

Das Naherü>en der Ruſſen gegen Conſtantinopel hatte die Engländer zulezt aus ihrer Ruhe aufgeſhre>t. Am 8. Februar hatte endlich der Miniſterrath die ſofortige Abſendung einer engliſchen Flotten - Abtheilung nah Conſtantinopel beſchloſſen.

Das große Ereigniß wurde vom Schaßkanzler Northcote dem Unterhauſe mitgetheilt, welcher zunächſt anzeigte, daß die rufſiſhen, offiziellen, militäriſ<hen Bedingungen des Waffenſtillſtandes nur La yard's Depeſche beſtätigen, wornach die Ruſſen die Vertheidigungslinien um Conſtantinopel herum beſeßzen. Deshalb erhielt ein Theil der engliſhen Flotte den Befehl, na< Conſtantinopel abzugehen, um zunächſt die engliſchen Unterthanen zu beſhüßen. Darin liege keine Drohung gegen Rußland. England werde die anderen neutralen Mächte einladen, ebenfalls Flotten na< Conſtantinopel zu ſenden.

Die Fahrt eines Theiles der engliſhen PanzerFlotte nah Conſtantinopel ſollte alſo die erſte Action einer europäiſchen Macht gegen Rußland ſein, und bezeichnete ſomit den

Beginn einer neuen Phaſe in der Orientfrage, obgleih die friedlihen Erklärungen des engliſchen Cabinets über den Zwe> der Entſendung der Flotte und des inzwiſchen bewilligten Credits, ſowie über die künftige Politik, wona<h au< England die Befreiung der Balkan-Chriſten als vollzogene Thatſache anerkenne und ſi< nun auf die Sicherung der Waſſerſtraßen und Egyptens zurü>ziehe, no< immer auf die Erhaltung des Friedens hoffen ließen. Erſtaunen erregte daher die Nachricht, daß der Sultan das Anſuchen der Engländer ve rWetgerle: VIe OUT df hrt Dur QED e Dardanellen zu geſtatten. Die Nachricht von der Weigerung des Sultans fand aber ihre eigentlihe Erläuterung erſt, wenn man bei der Beurtheilung jener Thatſache die Punctationen des Dardanellen-Vertrages zu Rathe zog. Dort heißt es im Artikel 1 ausdrü>lih, daß, ſolange die Pforte ſi< im Friedenszuſtande befinde, der Sultan keinem fremden Schiffe Einlaß in jene Meerenge geſtatten werde. Weiter heißt es im Artikel 2, daß der Sultan ſi<h die Vollmacht